Sandra Weckert
"Mit Kittel und Forke"
Berliner Herz und Schnauze sind längst zum geflügelten Begriff geworden. Zwar hört man in den Berliner Szene-Vierteln mittlerweile mehr schwäbisch als Icke-Dette-Kieke-Ma, und einige Berliner Wirte sind so schamlos, statt einer echten Berliner Molle ein Reagenzglas mit einer dünnen Flüssigkeit namens Kölsch auszuschenken, so dass wohl auch der rheinische Karneval an der Spree zwangseingeführt wurde, aber dennoch setzt sich am Ende immer wieder die sprichwörtliche Berliner Großschnauze durch. Sandra Weckert hält da locker mit.
Bis Sandra Weckert kam……
Im Jazz war davon bislang allerdings wenig zu spüren. Obgleich zahlenmäßig stärker als irgendein anderes Jazz-Biotop Europas, schämte sich der Berliner Jazz-Musiker für seine Herkunft. Klüngelungeist und Subventionsneid führten dazu, dass jeder Ansatz einer Szene-Mentalität im Keim erstickt wurde. Die Berliner Musikhochschulen überschwemmten die Stadt jedes Jahr mit einer neuen Legion frisch graduierter Jazzer, doch neue Ideen oder gar Innovationen gingen aus deren Reihen kaum hervor. Die Berliner Jazz-Szene drohte unaufhaltsam in die Provinz abzustürzen.
Bis Sandra Weckert kam. Sie streifte sich einen blauen Kittel über, packte eine Mistforke an und debütierte mit dem bewusst blasphemisch betitelten Album Way Out East. Was musste sich die junge Berlinerin dafür anhören! Wie kann man nur den großen Sonny Rollins… Und überhaupt solle sie erstmal richtig Saxofon lernen, bevor sie sich über Legenden lustig mache.
Was ihre Kritiker dabei nicht verstanden, war der Umstand, dass Sandra Weckert zu allererst über sich selbst lacht. So packte sie heuer noch einen drauf und benannte ihr Zweitwerk augenzwinkernd 50 Sandra Weckert Fans Can’t Be Wrong. Die Platte ist nicht nur eine beherzte Tour de Force durch die Welt der Stile und musikalischen Sujets, sie ist auch ein munteres Hörspiel, das mit den überkommenen Gepflogenheiten im zeitgenössischen Jazz-Betrieb aufräumt. Sandra Weckert hat ihr Ohr mehr am Puls der Zeit als an Idiomen, die schon zu Zeiten ihrer Großeltern Geschichte waren, doch genau diese Haltung wird ihr von den Wächtern über das Reinheitsgebot des Jazz übel genommen.
Natürlich lebt der Jazz von der Tradition.
Was also bedeutet für die kreative Provokateurin das kleine Wörtchen Jazz? „Jazz ist für mich ein Konglomerat von allen Dingen, die mich umgeben. Das ist für mich nicht nur eine 3-6-2-5-1-Verbindung, der archaische Blues oder Parker-Sound. Jazz ist mein ganzes Leben. Es macht mir großen Spaß, verschwitzt auf der Bühne zu stehen und ein Solo zu spielen. Es macht mir aber auch Spaß zu hören, wenn meine Mitmusiker total durchgehen. Es macht mir Spaß, darüber nachzudenken, warum etwas nicht funktioniert hat und wie ich es besser machen kann. Es macht mir Spaß, Reaktionen im Publikum zu sehen. Es macht mir Spaß, Prokofjew zu hören, und es macht mir Spaß, mit meiner Tochter in den Park zu gehen. Es macht mir Spaß, im Proberaum über dem Üben die Zeit zu vergessen. Diese Liste ließe sich unbegrenzt fortsetzen. Alles, was besonders heftige emotionale Reaktionen in mir auslöst, versuche ich in meiner Musik umzusetzen. Dabei gibt es stets Leute, die mir sagen, was geht und was nicht, doch diese Gebote schmeiße ich über Bord, denn sie interessieren mich nicht. Indem ich Gefühle hörbar mache, entsteht die Musik, die auf meiner Platte zu hören ist.“
Mit diesem Anspruch unterscheidet sich die Berliner Großschnauze noch nicht von allen anderen Musikern auf der Welt, denn jeder reklamiert für sich die Hörbarmachung von Gefühlen. Sie nimmt nicht einmal für sich in Anspruch, besonders virtuos oder innovativ zu sein. Es geht einfach nur darum, Jazz mit einem anderen Habitus zu vermitteln. Doch wo beginnt bei Sandra Weckert dieser Übersetzungsvorgang und wie vollzieht er sich?
„Sicher versucht jeder Musiker seine Eindrücke umzusetzen, aber ich habe oft die Empfindung, dass sie offenbar nicht so viel erleben oder ihr Leben nicht besonders interessant ist. Diese Musiker haben Übung darin, alles, was aus ihrer Musik herausstechen würde, wegzulassen. Sie glauben, dass Jazz auf eine bestimmte Weise zu funktionieren hat. Ich gehe genau anders herum an die Musik heran. Wenn jemand beim Spielen einen Fehler macht, retuschiere ich ihn nicht, sondern stelle ihn exponiert heraus. In dem Stück „Wir durchschreiten das Land Länge x Breite x Höhe“ beginne ich mit dem Aufeinanderschlagen von Kokosnüssen. Dabei beziehe ich mich auf den Monty-Python-Film „Die Ritter der Kokosnuss“. So ziemlich am Anfang des Films unterhält sich König Arthus mit einem Schlossherrn. Beide sind total kommunikationsgestört und reden völlig aneinander vorbei. Doch die Art, wie sie aneinander vorbei reden, ist so wunderbar absurd dargestellt, dass ich mir überlegt habe, wie ich dieses Gespräch in Musik umsetzen kann. Am Ende nahm ich eine Melodie, zog sie auseinander, versetzte sie und ließ sie wieder zusammen kommen. Die Kokosnüsse schrieb ich zum Schluss dazu. Dies umzusetzen ist für einen Schlagzeuger ziemlich schwer. Ein normaler Drummer setzt sich hin und sagt, es ist mir zu blöd, Kokosnüsse zu spielen, weil man sowas im Jazz nicht macht.“
Über das Ego der Musik
Beharrlich sucht Sandra Weckert nach Musikern, die sich über eingefahrene Denk- und Verhaltensspuren hinwegsetzen. Sicher wäre es eine viel größere Herausforderung, statt ihren Musikern uneingeschränkte Offenheit abzuverlangen, deren Vorlieben und Vorurteile zum Bestandteil ihres kreativen Eklektizismus zu machen. Das sieht auch die Saxofonistin so, doch fühlt sie sich der Überwindung dieser Bastion jetzt noch nicht gewachsen. „Ich suche mir die Musiker schon danach aus, inwiefern sie auch ihre eigenen Ideen und Köpfe haben. Sie spielen, wie sie spielen, und ich bin für alles offen, was von ihnen kommt. Ich will ja keinen Musiker ändern, sondern schreibe die Musik extra für die Musiker. Die Stücke basieren auf meinen Ideen, werden aber von den Musikern gefärbt. Allerdings mag ich es nicht, wenn das Ego der Musiker so groß wird, dass die Musik nicht mehr gespielt wird.“
Womit Sandra Weckert ein zentrales Problem des Jazz anspricht. In Zeiten, in denen immer größere Datenmengen immer stärker komprimiert werden, erscheint die ausufernde Soloprotzerei manches zeitgenössischen Jazz-Musikers geradezu paradox. Sandra Weckert weiß, dass sie mit ihren Überzeugungen gegen die Grundmauern des Jazz anrennt. „Das ist mir ziemlich egal. Wenn mir jemand sagt, das ist kein Jazz, dann sage ich eben, na gut, dann ist das eben kein Jazz.“ Und das sagt sie mit einem gewinnenden Lächeln und ohne jede Eingeschnapptheit.
Ist Sandra Weckert eine große Jazz-Musikerin?
Es gäbe noch eine Menge zu dieser außergewöhnlichen Platte zu sagen. Vor allem zu den Hörspieleinlagen. Sandra Weckert mistet den Berliner Jazz-Stall auch verbal aus und fördert einen unglaublichen Mief zutage. Doch sprechen diese keinen Spielchen mit Interna und wunden Punkten des Berliner Jazz viel zu sehr für sich selbst, als dass sie einer Interpretation bedürften. Vor allem sind sie so wunderbar auf andere Schauplätze zu übertragen. Man muss es einfach hören, um sich sein eigenes Bild zu machen.
Ist Sandra Weckert eine große Jazz-Musikerin? Vielleicht wird sie mal eine. Zu sagen hat sie jedoch vieles, das über das unmittelbare Spiel ihres Instruments und die Kompositionen hinausgeht. 50 Sandra Weckert Fans Can’t Be Wrong ist seit langem der wichtigste Diskussionsbeitrag zur leidigen Frage über die Relevanz des zeitgenössischen Jazz und seiner Vermarktung. Respekt!
Text: Wolf Kampmann
Quelle: Jazzthetik: 10/2002
Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung bei der Jazzthetik-Redaktion und dem Autor Wolf Kampmann.
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30.09.2002