Reem Kelani
Palästinensischer Blues
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Ihr Ur-Erlebnis, erzählt Reem, sei der Film „Latcho Drome“ von Tony Gatlif gewesen: „Als eine Frau sagte: „Ich beneide Eure Hunde“, und ich die Zigeunerinnen singen hörte, vergaß ich vollkommen, wo ich war. Ich weinte und schrie. Die Leute im Kino haben sicher gedacht, ich wäre völlig durchgedreht. Aber in diesem Moment wurde mir klar: die gitanos und wir, die Palästinenser, singen den gleichen Blues. Seitdem bin ich jeden Sommer in Jerez de la Frontera.“
Das Multitalent Reem Kelani
Egal, ob sie zu einem palästinensischen Cante Jondo anhebt, ob sie Jazz-Klassiker oder Lili Marleen auf Arabisch intoniert, ob sie persische Tschah-Tschahi-Bulbuli-Sequenzen perlen läßt, ob sie komponiert, textet, unterrichtet, oder Radiosendungen produziert, wie „Distant Chords“, die erfolgreiche sechsteilige Reihe für BBC 4, über die Musikkulturen der MigrantInnen-Communities in London: Reem Kelani, die 1964 in Manchester geborene und in Kuwait aufgewachsene palästinensische Sängerin kann fast alles. Für ihren Auftritt auf der neuesten CD des israelischen Saxofonisten Gilad Atzmon („Exile“) wurde sie von britischen Jazz-Kritikern (John Fordham, The Guardian) in den höchsten Tönen gelobt. Die BBC nominierte die CD für den World Music Award 2003. Dennoch hat Reem Kelani bisher kein einziges eigenes Album veröffentlicht.
Warum?
„Das Asthma war es nicht“, sagt Reem schmunzelnd. „Die besten Maßnahmen dagegen sind Schwimmen und Singen, und ich praktiziere beides intensiv.“
Vielmehr habe ihr kultureller Hintergrund eine Rolle gespielt. „An dem Entschluss, Sängerin zu werden, knabbere ich immer noch, denn als Palästinenserin ist die Familie für mich sehr wichtig.“ Ihre Eltern hätten jahrelang nicht mit ihr gesprochen, und einer ihrer Brüder habe sie sogar geschlagen, als sie 1991 ihre Doktorarbeit in Meeresküstenbiologie endgültig hinschmiss. „Gute Sängerinnen werden in der arabischen Welt zwar glühend verehrt, aber es ist besser, wenn es die Tochter des Nachbarn ist, und nicht die eigene“, erklärt Reem. „Wenn eine erwachsene Frau auf Arabisch singt, dann ist das viel sinnlicher als in der europäischen Musik. Der arabische Gesang benutzt wenig Resonanzen, man singt direkt aus dem Körper. Es ist, als ob man sein Innerstes nach außen kehrt. Das wirkt auf das arabische Publikum sehr sexy, und eine Frau, die sich öffentlich derart präsentiert, wird kaum noch einen Mann zum Heiraten finden. Das kann eine palästinensische Familie schwer akzeptieren.“
Studium – Koran – Jazzstandards
Dabei war Reem schon mit vier Jahren zum ersten Mal öffentlich als Sängerin aufgetreten; in der Vorschule in Kuwait, wohin die Familie zwei Jahre zuvor umgesiedelt war. Die Mutter stammt aus Nazareth, der Vater, ein Palästinenser aus Jenin, stammte aus einer angesehenen Sufi-Familie, hatte in England Medizin studiert und konnte es sich leisten, die Kinder auf internationale Schulen zu schicken. Das Nebeneinander von europäischer und arabischer Kultur war für Reem Alltag: Sie lernte Klavier bei einer holländischen Lehrerin, rezitierte den Koran von Anfang bis Ende, und sang Standards von Gershwin schon als Siebenjährige. „Bei einer Probe habe ich kürzlich sogar den Trompeter Guy Barker überrascht, mit einem wunderschönen Stück von Gershwin. Guy Barker hatte den Standard noch nie gehört, aber wir besaßen die Platte in den sechziger Jahren in Kuwait!“
„Ich hörte lieber Joan Baez…“
Doch trotz aller Weltläufigkeit pflegten die Kelanis auch ihre bäuerlichen palästinensischen Traditionen – einschließlich des konservativen Frauenbildes. „Meine Mutter legte Kugeln aus getrocknetem Joghurt in Olivenöl ein, oder füllte Weinblätter mit Reis, und sang dabei die alten Hochzeitslieder. Mein Vater erzählte währenddessen Geschichten über die Vertreibung der Palästinenser 1948,“ erinnert sich Reem. „Zu mir sagte er immer, ich sei kein richtiges Mädchen, sondern wie ein Mann ohne Schnurrbart. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte mich eine starke Frau genannt.“
Reem fühlte sich im multikulturellen Kuwait als Weltbürgerin. „Arabische Musik mochte ich überhaupt nicht“, gesteht sie. „Feiruz, die Libanesin war okay. Aber die Lieder von Umm Kulthum fand ich entsetzlich monoton und lang. Ich hörte lieber Joan Baez und Bob Dylan.“
Erst als sie mit 13 Jahren bei einem der jährlichen Familienbesuche in Nazareth eine traditionelle palästinensische Hochzeit miterlebte, sei in ihr das Gefühl erwacht, zur palästinensischen Diaspora zu gehören. „Mit einem Mal war ich stolz. Ich sah den Frauen beim Tanzen zu und dachte: diese Musik, diese Rituale, das ist unsere Kultur. Wir sind da, nahnu huna, es gibt uns auf der Landkarte. Einige Frauen bei der Hochzeit waren nicht verschleiert, andere schon; aber das hinderte sie nicht daran, über die Musik ihre Weiblichkeit auszudrücken. Sogar die dicken Mamas, diese palästinensischen Frauen, deren Brüste bis auf die Taille hinabhängen, und die die jujus trillern – ich war plötzlich stolz auf sie, und stolz, Palästinenserin zu sein. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich Musikerin werden und all diese Traditionen irgendwann erforschen wollte.“
Studium versus Jazzclubs
Doch nach dem Abitur studierte Reem auf Druck der Eltern zunächst in Kuwait Meeresküstenbiologie. Es sei rückblickend nicht ganz umsonst gewesen, findet Reem: „Statt über Fische und Shrimps forsche ich heute über Weltmusik und traditionelle palästinensische Lieder, und interviewe big mamas in den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon. Das methodische Vorgehen, die Disziplin, die Neugier, die ich aus dem Biologiestudium mitgebracht habe – das alles kommt mir als Musikwissenschaftlerin und Journalistin durchaus zugute.“
Neben dem Studium und gegen den Willen der Eltern, die die Tochter lieber auf dem Weg in den Hafen der Ehe gesehen hätten, arbeitete Reem als Sängerin in internationalen Clubs in Kuwait. Endgültig für die Musik entschied sie sich aber erst nach dem Golfkrieg 1990/1991: „Ich war bereits in England, um meinen Doktor zu machen, und meine Familie saß nach der Invasion der Iraker in Kuwait fest. Fünf Monate lang wußte ich nicht, ob sie noch lebten. Es war schrecklich. Danach war mir klar: Ich werde nur noch das tun, was ich wirklich will. Das Leben ist einfach zu kurz für Kompromisse.“
Erforschung palästinensischer Musik
Reem nahm ihre Gesangsausbildung wieder auf und absolvierte zahlreiche öffentliche Auftritte – für den Durchbruch reichte es allerdings noch nicht. Um täglich wenigstens warm essen zu können, teilte sie Suppe bei der Heilsarmee aus. Besser bezahlt waren die arabischen Musikworkshops für Kinder und Erwachsene, die sie im British Museum gab. Allerdings erlebte sie dabei auch, was es heißen kann, sich als Palästinenserin zu outen. „Wieviele Israelis haben Sie schon getötet?“ habe ein Kind sie gefragt, und „Sie sehen aber sehr schön aus! Und wir dachten immer, Palästinenser seien hässliche Menschen!“ Reem machte trotzdem weiter. Neben den Workshops schrieb sie für den Hörfunk der BBC satirische Beiträge aus der Migrantinnenperspektive.
1996 reiste sie in den Libanon, um in den Flüchtlingslagern die traditionelle palästinensische Musik zu erforschen, die vor allem von den Frauen noch gesungen wird. „Ich habe wunderbare alte Lieder dort gelernt und sehr viel Material gesammelt, das zum Teil in meine Workshops über arabische und palästinensische Musik einfließt. Aber das Projekt ist noch längst nicht abgeschlossen. Diese Traditionen werden nur mündlich überliefert, und wenn man sie nicht bald dokumentiert, werden sie unwiederbringlich verloren gehen.“
Begegnung mit Gilad Atzmon
Darüberhinaus begann Reem zu komponieren; eigene Songs, und immer mal wieder Musiken für Filme. Ein Film war es dann auch, der Reem Kelani mit Gilad Atzmon und dem Orient House Ensemble zusammenbrachte. Die südafrikanische Regisseurin Jenny Morgan drehte eine Dokumentation über den Kampf um das Palästinenserlager Jenin im Frühjahr 2002, und hatte neben der Palästinenserin auch den Israeli angefragt, der nicht nur als Top-Musiker sondern auch als entschiedener Antizionist bekannt ist und seit 1995 in London lebt.
Atzmon war höchst angetan von Reems Stimme und lud sie ein, für seine neue CD „Exile“, die schon fast fertig war, zwei Stücke aufzunehmen. Für Reem war es nicht selbstverständlich, als Palästinenserin mit einem jüdischen Israeli zusammenzuarbeiten. Doch sie sagte schließlich zu, überzeugt, daß „Frieden nur möglich ist, wenn Israelis und Palästinenser gemeinsam kreativ sind.“ Bei ihrem Erscheinen in England im Dezember 2002 wurde die CD mit begeisterten Kritiken bedacht, und die Konzerte, die Reem Kelani seither mit Gilad Atzmon und dem Orient House Ensemble quer durch Europa gegeben hat, waren durch die Bank sehr erfolgreich.
Ob Atzmon und Kelani längerfristig zusammenarbeiten werden, ist jedoch offen. Gilad Atzmon interessiert sich zur Zeit mehr für Tango, und Reem ist zunehmend als Solosängerin gefragt. Außerdem will sie sich nicht politisch vereinnnahmen lassen.
„Ich will nicht, dass das Politische meine künstlerische Botschaft überdeckt,“ sagt sie. „Die Musik muss auch für sich allein bestehen können. Meine Identität als Palästinenserin und als Sängerin sind eng miteinander verknüpft, meine Musik ist eine Art palästinensischer Blues. Aber ich will auch Liebeslieder und Jazz singen können, und damit ernst genommen werden.“
Reem Kelani tritt zusammen mit Gilad Atzmon und dem „Orient House Ensemble“ am 14. August 2003 in Köln bei der Popkomm auf.
Reem Kelani im Netz:
www.reemkelani.com
www.theyap.org/showcase/people/reemkelani/
Label:
http://www.enjamusic.com/
Ein Internetportal zum Dialog mit der islamischen Welt:
http://www.quantara.de/ar >auf arabisch
http://www.quantara/en>auf englisch
Das Buch von Gilad Atzmon “ A guide to the perplexed“ erscheint im Dezember 2003 beim DTV-Verlag
CD
CD (plus Bonus Video Track): Gilad Atzmon & The Orient House Ensemble Featuring Reem Kelani & Dhafer Youssef, ENJA Records 2003 Nr.: 888 844 2
Copyright: Redaktion Melodiva
30.06.2003