Musikerinnen in den Medien

Melodiva online - Hommage an eine außergewöhnliche Zeitschrift

Als ich letztes Jahr las, dass ausgerechnet die Melodiva nicht mehr wie bisher alle drei Monate bei mir im Briefkasten liegen würde, saß ich mitten an einem Kapitel meiner Diss über die Forschungen, Initiativen und neuen Medien von Musikerinnen, Jazzhistorikerinnen, Journalistinnen im Jazz.
All diesen Arbeiten ist es zu verdanken, dass Musikerinnen sich heute als Teil einer Szene und einer Geschichte verstehen können, die sonst immer noch unbekannt und verschüttet geblieben wäre.

Die Melodiva ist die einzige Fachzeitschrift von Musikerinnen für Musikerinnen in Jazz, Rock, Pop und World Music. Der vorangegangene Rundbrief von Frauen machen Musik e.V. war möglicherweise weltweit das erste regelmäßig erscheinende Newsletter einer Frauenmusikinitiative.
Bis in die siebziger Jahre gab es quasi keine Forschungen über Musikerinnen in der Popularmusik. Daher möchte ich hier einen kleinen Überblick über Forschungen, Bücher und Printmedien von Frauen geben und daran zeigen, wie sich die Wahrnehmung und Diskussion dadurch verändert hat.

Unabhängige Medien von Frauen

In den siebziger Jahren erschien die Frauenmusikzeitschrift Paid my Dues in den USA.
1980 begann Rosetta Reitz in New York, die LP-Serie Rosetta Records zu publizieren mit Aufnahmen von zahlreichen Bluesmusikerinnen, den International Sweethearts of Rhythm und Musikerinnen wie Valaida Snow, Ethel Waters und Sister Rosetta Tharpe.
Reitz beschrieb in den Plattentexten das Selbstverständnis und ausgeprägte Selbstbewusstsein dieser Musikerinnen, und die Plattencover enthalten viele Fotos und seltene Zeitdokumente. Diese Serie ist einzigartig und nur in wenigen Archiven komplett vorhanden. Die meisten Platten sind heute vergriffen. Reitz verschickt nur noch gelegentlich mal eine Schallplatte aus den Restbeständen in ihrer Wohnung. (Die erste Platte, Mean Mothers. Unabhängige Frauen und ihr Blues, hat sie aiuch als CD herausgebracht, meinte jedoch, dass sich das angesichts der geringen Umsätze kaum lohnt).

Seit den späten siebziger Jahren wurden immer mehr unabhängige Medien von Frauen gegründet, wie Ms oder die von einem feministischen Autorinnenkollektiv herausgegebene Zeitschrift Heresies in den USA, oder in Deutschland Emma oder Courage.

Musikerinnen und Musikwissenschaftlerinnen gründeten Arbeitskreise und Archive über Frauen in der Musikgeschichte. 1978 wurde der Internationale Arbeitskreis Frau und Musik gegründet, und das damals angelegte Archiv hat sich bis heute zum weltweit größten Frauenmusikarchiv mit über 8000 Kompositionen von Frauen entwickelt.

1985 erschien die erste Ausgabe des Rundbriefes von Frauen machen Musik e.V. mit Beiträgen und Interviews von Musikerinnen, Berichten von Frauenmusikfestivals und -workshops, einer Serie zur Geschichte der Frau im Jazz und verschiedenen Exzerpten aus Diplomarbeiten. Aus dem vereinsinternen Rundbrief wurde 1996 die Melodiva.

Erst 1995 gründeten Frauen in New York den Verein International Women in Jazz, der gerade erst beginnt, ein eigenes Newsletter herauszugeben. Eine der Melodiva vergleichbare Zeitschrift gibt es in den USA bislang nicht.

Forschungen über Musikerinnen im Jazz

Bis in die siebziger Jahre gab es nur sporadische Beiträge über Jazzmusikerinnen in den Jazz-Zeitschriften. In Jazzgeschichtsbüchern wurden außer Billie Holiday, Ella Fitzgerald und Sarah Vaughan nur wenige Sängerinnen und kaum Instrumentalistinnen erwähnt. Bücher und Artikel wurden zum allergrößten Teil von Männern geschrieben.

Seit den späten siebziger Jahren begannen Forscherinnen, die Musikgeschichte von Frauen im Jazz zu rekonstruieren. Anfang der achtziger Jahre erschienen die ersten Bücher über die Geschichte von Frauen im Jazz von Sally Placksin, American Women in Jazz (1982) und von Linda Dahl Stormy Weather (1984).
Beide konzentrierten sich auf die Geschichte der Instrumentalistinnen in den USA. Antoinette Handy veröffentlichte zur gleichen Zeit ein Buch über die Frauenbigband International Sweethearts of Rhythm (1983).
Diese Bücher zeigen die vielfältige Geschichte von Jazzmusikerinnen und bildeten eine wichtige Basis für weitere Arbeiten.

Die erste umfangreiche deutschsprachige Examensarbeit, Frauen im Jazz. Über amerikanische Jazzmusikerinnen und Behinderungen weiblicher Kreativität von Monika Rieser und Brigitte Schulte-Hofkrüger, erschien bereits kurz darauf. (Bremen 1985). Die Autorinnen haben u.a. anhand einer Untersuchung mehrerer Standardwerke über Jazz nachgewiesen, dass dort kaum jemals Instrumentalistinnen und nur wenige Sängerinnen erwähnt wurden. Es folgten eine Reihe weiterer Examens- und Diplomarbeiten, die u.a. auch die Situation von europäischen Musikerinnen untersuchten – und die leider fast nie außerhalb der Hochschulen veröffentlicht wurden.

1989 wurde eine Übersetzung von Sally Placksins Buch Frauen im Jazz. Von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart veröffentlicht. 1992 erschien Die Jazz-Frauen von Gunna Wendt, eine bunte Mischung von Porträts und Interviews (vorwiegend von deutschsprachigen Musikerinnen) sowie Gedichten und Geschichten über Jazz. 1995 folgte eine Studie über fünf süddeutsche Instrumentalistinnen, Improvisation als Leben, von Eva-Maria Bolay.

Anfang der neuziger Jahre habe ich eine ausführliche Bibliographie über Frauen im Jazz für das Jazz-Institut Darmstadt erstellt, die 1994 unter dem Titel Women Cook – But Not In Kitchen. Frauen im Jazz. Eine kommentierte Bibliographie veröffentlicht wurde.

In den USA erschienen 1995 Madame Jazz. Contemporary Women Instrumentalists von Leslie Gourse, ein Überblick über heute vor allem in New York aktive Jazzinstrumentalistinnen, sowie die Dissertation Women Brass Players In Jazz: 1860 To The Present (Women Musicians) von Mary Lazarus Woodbury. 1998 veröffentlichte Diane Wood eine Biographie von Billy Tipton (Suits me: The Double Life of Billy Tipton), der spannenden und komplexen Geschichte der Pianistin und Saxophonistin Dorothy Tipton, die ihr ganzes professionelles Leben als Mann- als bekannter Pianist und Bandleader Billy Tipton – gelebt hat. Erst nach ihrem Tod 1984 kam es zu der spektakulären Entdeckung, dass Tipton eine Frau war.

Im selben Jahr erschien Blues Legacy and Black Feminism. Gertrude „Ma“ Rainey, Bessie Smith, and Billie Holiday von Angela Davis . Erst kürzlich veröffentlichte Linda Dahl die erste und bislang einzige Biographie überhaupt von einer der wichtigsten Jazzinstrumentalistinnen in der Geschichte, Mary Lou Williams: Morning Glory. The Story of Mary Lou Williams (1999).
Ganz neu auf dem Markt ist Swing Shift: „All-Girl“ Bands of the 1940s von Sherrie Tucker.

Neue Sichtweisen und ein neues Interesse an Jazzmusikerinnen

Frauen haben in den achtziger und neunziger Jahren den Diskurs über Musikerinnen maßgeblich verändert:

Der weitaus größte Teil der wissenschaftlichen Arbeit – Bücher zur Geschichte der Frau im Jazz, Examens- und Diplomarbeiten, Artikel in Fachzeitschriften etc. – wurde von Frauen geleistet.

Ein beträchtlicher Teil dieser wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Examensarbeiten, Beiträge in feministischen Zeitschriften und Frauenmusikzeitschriften wurden von Musikerinnen verfasst.

In von Frauen unabhängig publizierten Medien gibt es wesentlich mehr ausführliche Interviews und Statements von Musikerinnen selbst als in Fachzeitschriften für Jazz und Popularmusik.
In vielen Texten kommen persönliche Erfahrungen und Standpunkte von Musikerinnen, spezielle Aspekte der Position von Frauen im Jazz, politisch-soziologischen Faktoren, die auf Frauen einwirken und sie an kreativem und selbstbewusstem Musizieren hindern, oder Fragen nach „weiblicher“ Kreativität und Ästhetik zum Ausdruck; frauenspezifische Perspektiven, die in Mainstream-Medien kaum diskutiert werden.

Feministische Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen und Musikerinnen haben sexistische Darstellungen analysiert, gegen sie protestiert und dadurch zu einer differenzierteren Wahrnehmung von Musikerinnen beigetragen.

Allmählich veränderte sich dadurch auch die allgemeine Rezeption von Musikerinnen. 1993 erschien zum ersten Mal ein Buch, in dem Musikerinnen adäquat und selbstverständlich repräsentiert sind: der Sammelband Die lachenden Außenseiter. Musikerinnen und Musiker zwischen Jazz, Rock und Neuer Musik von Patrick Landolt und Ruedi Wyss.

Auch Jazz-Zeitschriften interessierten sich mehr für Musikerinnen: Anfang der neunziger Jahre war „Frauen im Jazz“ häufig Thema von kompletten Zeitschriftenausgaben in Jazz Times (August 1990, September 1991), Latin Beat (Mai 1991, August 1993), Jazz Hot (Dezember 1991, Januar 1992), du (April 1992, Schwerpunkt Sängerinnen), Jazz Live (1994) und California Jazz Now (Oktober 1994).
Diese Features waren allerdings Alibi-Ausgaben, und in den regulären Ausgaben bleiben Musikerinnen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Dennoch gibt es seit den neuziger Jahren eine sehr viel differenziertere Rezeption von Musikerinnen, mehr ausführliche Interviews (etwa in der Jazzthetik oder der Neuen Zeitschrift für Musik) als zuvor. Im Juli 2000 erschien in Jazziz eine Feature-Ausgabe Jazz Women (mit beiliegender CD), die aktuelle Bedingungen von Musikerinnen zum Thema hat, viele Plattenrezensionen enthält und inhaltlich über die oben genannten Zeitschriften hinausweist.

Viele der oben genannten Forschungsarbeiten und Medien erreichen nur ein kleines Insiderpublikum. Jedoch finden sich gerade darin zahlreiche wertvolle Informationen, die in Jazzgeschichtsbüchern bislang nicht erwähnt werden.
In diesem Sinne wünsche ich der Melodiva viel Erfolg und Resonanz im Internet, auf dass Informationen über Musikerinnen ein riesiges Publikum erreichen und begeistern können!

Ursel Schlicht

Ursel Schlichts Dissertation

It´s Gotta Be Music First. Zur Bedeutung, Rezeption und Arbeitssituation von Jazzmusikerinnen erscheint diesen Herbst im CODA Verlag/Karben. Der Hauptteil basiert auf 12 Interviews mit New Yorker Musikerinnen. Eingangs gibt es einen Überblick über Forschungen, die Rezeptionsgeschichte von Jazzmusikerinnen seit 1936 und einen historischen Abriß über wichtige und unterschätzte Beiträge von Musikerinnen zur Entwicklung des Jazz.

Ursel Schlicht ist Pianistin, leitet ihre Band Ursel Schlicht/Tony Romano Quintett mit Virginia Mayhew am Saxophon (CD Deadlines & Conmmitments besprochen in der letzten Melodiva, und arbeitet mit verschiedenen Ensembles für Improvisierte Musik und Jazz in Deutschland und New York. Im Herbst 1999 ist sie mit ihrem Duo Statements (experimentelle/improvisierte Musik) auf Tournee in Mexiko und mit der Posaunistin Viola Engelbrecht tourt sie im Oktober in und um Frankfurt und Kassel.

Copyright: Redaktion Melodiva

Autorin: Ursel Schlicht

31.03.2001