Klotzen statt kleckern

Reeperbahnfestival 20.-23.09.2017

„Europas größtes Clubfestival“, „eine der weltweit wichtigsten Veranstaltungen der Musik- und Digitalbranche“, „internationaler Weichensteller für die Zukunft der Musik und der Musikwirtschaft“ – wenn es um das Reeperbahnfestival geht, das in diesem Jahr zum zwölften Mal in Hamburg veranstaltet wird, sparen Presse und Veranstalter nicht mit Superlativen. Kein Wunder, denn das Festival ist ein echtes Mega-Event und bietet 2017 nicht nur über 500 Konzerte und Showcases an 70 Spielstätten und ein umfangreiches Kunstprogramm, sondern auch eine Business-Plattform für Unternehmen und Organisationen aus der internationalen Musik- und benachbarten Digitalwirtschaft, das auch für MusikerInnen interessant sein dürfte.

Das wohl markanteste Merkmal des Festivals ist wohl, NewcomerInnen, na, sagen wir lieber: der Crème de la Crème der „Artists To Watch“ aus der ganzen Welt eine Bühne zu bieten, und das genreübergreifend von Indie, Pop, Rock, Folk und Singer-Songwriter über Electronic, Hip Hop und Soul zu Jazz und Classical. Wer wissen möchte, wer die Stars von morgen sind, sollte sich einfach das Line-Up des Reeperbahnfestivals anschauen. Um Euch die Qual der Wahl zu erleichtern, stellen wir Euch hier einige der KünstlerInnen vor.
Festivalprogramm: über 500 Konzerte – 70 Orte – 4 Tage

Da ist z.B. die Südafrikanerin ALICE PHOEBE LOU (Foto), die bereits zum dritten Mal dabei ist und immer größere Clubs füllt. Begonnen hat sie als Straßenmusikerin, im letzten Jahr hat sie ihr Debüt „Orbit“ veröffentlicht und es damit bis in die Shortlist der VIA! VUT Indie Awards geschafft, die im Rahmen des Reeperbahnfestivals verliehen werden. Auch die Singer-/Songwriterin EMILY-MAE LEWIS aus Hamburg wird beim Festival zu sehen sein, sie ist zwar erst 18, hat aber beim diesjährigen Hamburger Musikpreis KRACH+GETÖSE großen Eindruck auf den Trompeter und Jurymitglied Nils Wülker gemacht und prompt einen Preis gewonnen. Die Holländerin CHANTAL ACDA bringt ihre Folk-Kleinoden nach Hamburg.

Für das Programm „Wunderkinder“ des Festivals ausgewählt, das Acts aus Deutschland mit sog. „Talent Buyern“ zusammenbringt, ist KAT FRANKIE (Foto: Timothy Wiehn). Die australische Singer-Songwriterin mit Wohnsitz in Berlin will sich nach Kollaborationen mit Clueso und Olli Schulz wieder vermehrt ihrer eigenen Musik widmen; ihr drittes Album „Please Don’t Give Me What I Want“ liegt schon fünf Jahre zurück, ist mir von einem grandiosen Auftritt in der Brotfabrik noch gut in Erinnerung. In Hamburg wird sie erste neue Songs präsentieren. MOGLI aus Frankfurt gehört ebenfalls zur Liste der „Wunderkinder“. Sie ist, seitdem ihr Spielfilm „Expedition Happiness“ über einen einjährigen Roadtrip in den Kinos lief, in aller Munde. Zusammen mit ihrem Partner, dem Filmemacher Felix Starck, der auch „Pedal The World“ gedreht hatte, reiste sie ein Jahr lang in einem ungebauten Bus durch Nordamerika. Dieser Trip inspirierte sie auch für die Songs ihres zweiten Albums „Wanderer“.

Nicht fehlen darf die britische Sängerin und Multiinstrumentalistin MARIKA HACKMAN (Foto: Steve Gullick). Sie klingt zuweilen wie eine amerikanische Indie-Rock-Band der 80er- und 90er-Jahre, wenn auch mit Folk-Einfluss. Ella Walker aka WILDES hat erst einen Song – großes Kino: „Bare“ – veröffentlicht; dass sie trotzdem auf das Festival eingeladen wurde, spricht Bände. Ebenfalls erwartet wird die libanesische Musikerin YASMINE HAMDAN, die als international gefragte Künstlerin viel auf Reisen ist; die Songs ihres aktuellen Albums „Al Jamilat“ sind im Flugzeug, in Hotelzimmern oder in Zügen entstanden. In ihren arabischsprachigen Songs treffen Elektro-Beats auf griechische Bouzouki-Musik, klassische arabische Rhythmik auf modernen Trip-Hop.

Nominiert für den diesjährigen Anchor Award, der im Rahmen des Festivals an die vielversprechendsten aufstrebenden Talente verliehen wird, ist die britische Singer-/Songwriterin JADE BIRD (Foto: Shervin Lainez) aus London. Obwohl eine Newcomerin, wird sie schon jetzt als tolle, überzeugende, auch politisch Farbe bekennende Künstlerpersönlichkeit gesehen, die mit ihrer ersten EP „Something American“ eine eindrucksvolle, höchst abwechslungsreiche Sammlung von Indie-Folk Songs präsentiert hat.

Die all-female Band DAKOTA (Foto) aus Holland reiht sich seit 2010 ein in die Riege erfolgreicher Frauenbands wie Warpaint oder Haim und bringt ihren Mix aus Dream Pop, Elektronik, Indie-Gitarren und einem Schuss Grunge nach Hamburg. Sehr, sehr, sehr beeindrucken wird sicher auch DEBRAH SCARLETT aus der Schweiz, die auf ihrer aktuellen EP „Dys(u)topia“ nicht nur eine Wahnsinns-Stimme, sondern auch jazz-orientierte Songwriterqualitäten beweist. Unvergleichlich versponnenen Pop bieten die beiden Musikerinnen Rosa Walton und Jenny Hollingworth mit dem merkwürdigen Bandnamen LET’S EAT GRANDMA. Sie stammen aus dem britischen Norwich, kennen sich seit Kindertagen und machen zusammen Musik, seit sie 13 Jahre alt sind.

Da Kanada das Partnerland des Festivals ist, gibt es in diesem Jahr viele KünstlerInnen aus Kanada zu entdecken: ELISE LEGROW singt mit großer Stimme Popsongs mit Folk- und Jazz-Einschlag und setzt sich gerne im Stil der 1950er- und 1960er-Jahre in Szene. Auch die Sängerin und Gitarristin MO KENNEY (Foto) darf nicht fehlen, zählt sie doch inzwischen zu den stärksten Songwriterinnen in Kanada. Mit Songschreiben hat sie angefangen, als sie 14 war. Damals noch ein Fan von Rock-Bands wie Led Zeppelin und Black Sabbath, versuchte sie einerseits, deren Gitarristen nachzueifern und tolle Soli zu spielen, ihre Songs dagegen orientierten sich mehr an Folk und sanftem Pop. Mittlerweile sind aber immer rockigere Töne von ihr zu hören.

Die gibt es auch bei folgenden Bands und Solokünstlerinnen: Die Britin FINDLAY hatte bereits mit 17 einen Plattenvertrag, fühlte sich aber eingeengt und gründete stattdessen ihr eigenes Label Mint Records. Stilistisch lässt sich Findlay nicht festnageln. Sie hat die Wut und Energie eines Riot Grrrrls, spielt melancholische Melodien auf dem Piano, zitiert Synthie-Pop der 80er, aber sie benutzt auch Elemente des Indie-Rock. Die Indiepunkband CANDELILLA (Foto: Matthias Kestel) aus München gewannen mit ihrem neuen Studioalbum „Camping“ gar den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Das Indierock-Trio LEVENT aus Berlin, zwei Bassistinnen und ein Schlagzeuger, besticht durch seinen dunklen Sound und die helle Gesangsstimme.

Bands, die sich schon in Kindertagen gründeten, gibt es auch einige: Die jungen Musikerinnen von THE ACES (s. MELODITA-Interview) aus Utah haben sich bereits 2008 im Teeniealter gegründet und wurden von der Presse bereits mehrfach als „Artists To Watch in 2017“ gelistet. Sie sind zum ersten Mal in Deutschland. Außerdem sollte frau nicht den Auftritt von THE REGRETTES (Foto) verpassen: das Quartett klingt auf dem Debütalbum „Feel Your Feelings Fool!“ (Warner), als wäre das mindestens schon das dritte Album. Dabei ist Sängerin Lydia Night gerade 16 Jahre alt geworden, die anderen Bandmitglieder sind auch nur wenig älter. The Regrettes stammen aus Burbank, Kalifornien und spielen einen rotzigen Punk-Garagen-Sound. VELVET VOLUME aus Dänemark sind drei Schwestern, die 2013 ihre Band gründeten und mit ihren energetischen Auftritten schnell für Aufsehen sorgten, denn diese Band rockt!

Jazzig wird es bei der sechsköpfigen Berliner Band HOLLER MY DEAR um die Sängerin Laura Winkler. Sie kommen mit Trompete, Akkordeon, Mandoline, Bass und Schlagzeug nach St. Pauli. Auch aus Berlin, aber ursprünglich ist sie Neuseeländerin, kommt TERESA BERGMAN (Foto: Angst im Wald), die mit Joni Mitchell, ZAZ und Wallis Bird verglichen wird. In ihren Songs gibt es eine Menge Jazz und viel Folk, sie selbst spielt auf der Bühne eine Western-Gitarre. Eine ungewöhnliche Klangfarbe bringt das Trio PARADISIA aus London mit: bei einer Party vor sieben Jahren entdeckten Sophie-Rose Harper (Gesang) und Kristy Buglass (Gesang, Keyboard), dass ihre Freundin Anna Pesquidous eine Harfe besitzt. Kristy und Sophie Rose spielten damals schon in einer Punkband. Nachdem die drei jungen Frauen ihre gemeinsame Liebe zu Joni Mitchell entdeckt hatten, gründeten sie Paradisia, um in Zukunft Folk-orientierte unter Einbeziehung der Harfe zu machen. Über ihre erste Single „Warpaint“ sagt die Band: „Es ist ein Song über weibliche Solidarität und das Selbstbewusstsein, dass sie einem verschaffen kann. Es geht darum, auszubrechen, die Grenzen der weiblichen Konventionen zu durchschlagen.“

Konferenz: Karrieretipps – Diversity – Gender – Verantwortung

Neben dem monstermäßigen Konzertprogramm findet zeitgleich wieder eine Konferenz statt, die ebenfalls den Anspruch hat, ganz nah oder noch vor dem Puls der Zeit zu sein. Von unzähligen Branchentreffen, Networking- und Matchmaking-Events hin zu Workshops, Sessions und Seminaren – das Programm kann sich sehen lassen. Viele Angebote richten sich an Businessleute, aber auch MusikerInnen werden fündig. Ein Auszug aus dem Programm:

„385° – Building a Career In Music Business” & „Erfolg im Music-Business“
Hier gibt es Tipps von ExpertInnen, wie frau am besten die eigene Karriere in der Musikbranche anpackt.
„Networking für Musiker“
Diese Session versucht, sinnvolle Synergien und effektives Networking zu beschreiben und zu erklären, wie frau die sozialen Medien sinnvoll nutzen kann.
„Freelancing As a Musician In Germany“
In diesem Workshop geben SMart (Société Mutuelle pour artistes), eine Genossenschaft, die es sich seit fast 20 Jahren zur Aufgabe macht, die Arbeitsbedingungen von Selbstständigen zu verbessern, sowie Music Pool Berlin Antworten darauf, wie das funktioniert mit der Selbstständigkeit − und versuchen, kleinen Problemen den großen Schrecken zu nehmen.
„Ab durch die Röhre – Musik und Geldverdienen mit Youtube“
Youtube und wie frau damit Geld verdienen kann.
„Mach ma Instagram“
beschreibt, wie frau sich Instagram zunutze macht.
„Facebook-Marketing: Likes verkaufen keine Tickets!“
Diese Session gibt Tipps, wie per Facebook Tickets verkauft werden können.
„Virtuose (Selbst-)Vermarktung“
In diesem Gespräch sprechen Dozierende und Studierende über den Status Quo der Selbstmanagement-Kompetenzen, die ein Popmusikstudium derzeit vermittelt und wo nachgebessert werden kann. Sessions zur Arbeitsweise und den Funktionen der GEMA und GVL oder über Touring in Deutschland, welche Rolle Künstleragenten, Konzertagenturen und lokale Veranstalter spielen, ergänzen das Angebot.

Noch interessanter wird es wahrscheinlich bei „Frauen im Rap – welche Rolle spielt das Geschlecht?“. Helen Fares, Sookee, Pilz, Lady Bitch Ray und Melbeatz sprechen darüber, wie sich die Dominanz der männlichen Rapper und der Themen Sexismus, Homophobie und Rassismus erklärt und was man/frau dagegen unternehmen kann.

Ob wir als MusikerInnen und Beschäftigte im Musikbusiness auch eine gesellschaftliche Verantwortung tragen, wird ebenfalls gefragt wie z.B. in der Veranstaltung „Musik Bewegt – Wie geht Haltung?“. Wie können MusikerInnen in einer vernetzten Welt gesellschaftlich Verantwortung zeigen? Wieviel Mut braucht es, um mögliche Risiken einzugehen? Wie wird soziales Engagement in der Öffentlichkeit heutzutage wahrgenommen und wie schnell wird man als „Gutmensch“ abgetan und warum? In Kooperation mit der Spenden- und Aktionsplattform Musik Bewegt wird in dem Panel über soziale Verantwortung und gesellschaftliches Engagement in der Musikindustrie diskutiert und der Frage nachgegangen, warum politische Haltung und Aktion öffentlich oft so kontrovers wahrgenommen wird. Bei „Pop Goes Politics“ geht es um die Frage, was Veranstaltungen wie die Festivals Global Citizen oder Peace x Peace heutzutage noch bewirken können. Bei der Veranstaltung „Utopie & Alltag – Präsentation“ wird in interaktiven Formaten diskutiert, gedacht, gestritten und gefeiert. Das alles unter der Leitfrage „#dafuer – In welchem Land wollen wir leben?“

Auch Behind-The-Scenes Veranstaltungen haben ihren Platz: Bei der Session „(Zwei-)Ohrkino: so kommt Musik in den deutschen Film“ erläutern die vier Grandes Dames der Film-Musik Supervisorinnen Milena Fessmann, Charlotte Goltermann, Pia Hoffmann und Uli Kleppi ihre Arbeit und wie sie den richtigen Soundtrack für die Bilder und die Ideen der Regisseure zusammenstellen. In der „Real Horror Story Vol.IV“ packen „Sync Profis“ aus und erzählen aus ihrem pannenreichen Alltag, sodass die „Zuschauer gefahrlos und schmerzfrei aus den Fehlern anderer lernen können“. Bei „Cannes Lions – Best Use Of Music“ wird ein Blick hinter die Kulissen der Zusammenarbeit von Musik und Werbung gewährt. Bei der Corporate Session „Soundnotation“ geht es um digitale Noten und wie frau per Mausklick zu neuem Content und Wertschöpfungsmöglichkeiten kommt.

Das Programm der VUT Indie Days, die in diesem Jahr bereits zum dritten Mal in Folge vom Verband unabhängiger Musikunternehmen (VUT) als Teil des Konferenzprogramms des Reeperbahn Festivals veranstaltet werden, ist komplett. Der Schwerpunkt in diesem Jahr lautet „Geschlechtergerechtigkeit und Diversität“. Los geht es am 21.09. mit der Session: „Musik mit Haltung?! – Die gesellschaftliche Verantwortung von Künstler_innen und Musikunternehmen“ mit der Moderatorin Sonja Eismann, Mitgründerin und Chefredakteurin Print, Missy Magazine und den Sessionteilnehmer_innen Anna Groß (Geschäftsführung Springstoff), Stephan Meyer (Labelmanager, AL!VE AG), u.a. Lohnenswert sind sicher auch die Veranstaltungen am 22.09. mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit und Diversität in der Musikwirtschaft: Nach dem Reeperbahn Festival-Talk „Diversity Is Good For You“ von Keith Harris findet die Indie Days-Session „Action NOW! The Next Steps for Achieving Diversity in the Music Industry“ statt, bei der sich Vertreter_innen verschiedener Initiativen über Erreichtes und nächste Schritte hin zu mehr Diversität in der Musikwirtschaft austauschen. Danach findet wie in den vergangenen beiden Jahren von 14-16 Uhr auch ein Music Industry Women-Get-together statt. Dieses Jahr trägt es den Titel „The Grass is Always Greener on the Other Side: Gender Equality in Norway“.

Beim International Music Journalism Award, der erstmals während der Konferenz verliehen wird, sind u.a. auch Arbeiten zum Thema Gender, Sexismus und Geschlechtergerechtigkeit für einen Preis nominiert:
„Pop ist kein weißer, heterosexueller Mann – Multimedia-Projekt über Diversität im Pop“ von Isabelle Klein und Andre Beyer (detektor.fm)
“Wie viel Penis steckt im Pop? Warum die Musikbranche ein Frauenproblem hat“ von Katja Engelhardt, Ann-Kathrin Mittelstraß, Vanessa Patrick und Jasper Ruppert ( Puls, BR)
„Reverberations: History and Legacies of Resistance in Black Women’s Music“ von Roberta Nin Feliz (Bitch Magazine)

Als wär das alles nicht schon genug, haben die VeranstalterInnen auch noch ein Kunstprogramm mit vielfältigen Ausstellungen und Installationen verschiedener Kunstgattungen und Literaturveranstaltungen zusammengestellt. Seit 2016 ergänzt zudem ein umfangreiches Musikfilmprogramm das der Sparte Kunst; zum Programm haben wir bereits eine News veröffentlicht.

Festivaltickets: 1-Tages Tickets ab 30.-€, 2-Tages Tickets 75.-€, 3-Tages Ticket 85.-€, 4 Tages-Ticket 95.-€ ohne Elbphilharmonie. Tickets
Konferenztickets: 172,06€ – 326,50€ Tickets

Das Popbüro bietet Tickets zu Sonderkonditionen für Stuttgarter KünstlerInnen und Unternehmen an.

https://www.reeperbahnfestival.com
Autorin: Mane Stelzer

11.09.2017