Inge Brandenburg
eine Jazzkarriere in Deutschland
Im Juli 1960 wurde Inge Brandenburg auf dem Jazzfestival von Antibes zur besten Jazzsängerin Europas gekürt. Aber als sie am 23. Februar 1999 im Krankenhaus München Schwabing starb – nur fünf Tage nach ihrem 70. Geburtstag – da war sie verarmt und nahezu vergessen. Ihr Leben war eine Geschichte, die sich „hauptsächlich in Moll abspielt, mit zu vielen Blue Notes“. So stand es schon 1960 auf der Hülle ihres Plattendebüts „Herzlichst, Inge“. Damals sollte das den Zuhörern vor Augen führen, was für einen schweren Weg Inge Brandenburg hatte zurücklegen müssen, um endlich da anzukommen, wo sie hingehörte: an die Spitze. Heute wissen wir, dass ihr Leben in Moll weiterging bis zum Ende.
Kindheit unter düsteren Vorzeichen
Geboren wird Inge Brandenburg am 18. Februar 1929 in Leipzig. Der Vater nimmt die Zweijährige mit in seine Stammkneipe, wo er sie auf den Tisch stellt und singen lässt. So verdient sich Inge ihren ersten Applaus und dem Vater ein Freibier. Mit 10 Jahren muss Inge miterleben, wie ihr Vater von der Gestapo abgeholt und zusammengeschlagen wird. „Ich nehme an, er war Kommunist“, sagt sie später in einem Interview. Er wird ins KZ Mauthausen verschleppt, wo er 1940 ums Leben kommt. „An einem elektrischen Stromschlag gestorben“, heißt es lapidar in einem Brief, der der Urne mit der Asche des Vaters beiliegt. Ob er umgebracht wurde, bei einem Unfall oder einem Fluchtversuch zu Tode kam, wird nie geklärt. Auch die Mutter gerät in die Fänge der nationalsozialistischen Willkür: Ihre Spur verliert sich zwei Monate vor Kriegsende auf einemTransport vom KZ Ravensbrück nach Dachau. Warum sie überhaupt im KZ landete, kann auch nur vermutet werden: Möglicherweise hatte sie bei ihrer Arbeit in einer Restaurantküche polnischen Kriegsgefangenen Essen zugesteckt.
Inge wächst, getrennt von ihren fünf Geschwistern, in Kinderheimen auf. Schnell wird sie dort in der Kirche als Solosängerin eingesetzt. Gefördert wird ihr Talent aber nicht. Auf die Bitte des jungen Mädchens, Klavierunterricht nehmen zu dürfen, erwidert die Heimleiterin: „Du, lern mal einen anständigen Beruf. Klavierspielen – das ist was für höhere Töchter, dir ihr ganzes Leben nichts anderes zu tun brauchen.“
„Frankie’s little sister“
Ihre Brandenburgs Gesangskarriere beginnt 1949 mit einer Annonce in der Augsburger Tageszeitung: Das Tanzorchester des Bandleaders Eugen Weigele sucht „eine gutaussehende Sängerin mit tiefer Stimmlage und guten Englischkenntnissen.“ Mit „Sah ein Knab ein Röslein stehn“, ohne Begleitung vorgesungen, ergattert Inge den Job. Englisch kann sie noch nicht, aber in kurzer Zeit erarbeitet sie sich ein ansehnliches Repertoire von amerikanischen Songs, indem sie die Texte abhört, in Lautschrift aufschreibt und singen lernt, ohne zunächst ein Wort davon zu verstehen. Doch wer jeden Abend für amerikanische Soldaten auftritt, der lernt schnell auch ihre Sprache zu sprechen. Sieben Jahre zieht sie mit verschiedenen Tanzkapellen von Club zu Club und singt praktisch alles, was damals in Amerika populär ist: von Frank Sinatra über Dinah Washington bis hin zu Hillbilly-Schlagern und Musical-Melodien. Die GIs verpassen ihr den Spitznamen „Frankie’s little sister“. Ihre Tätigkeit für die amerikanische Armee führt auch zu Torneen durch außerhalb Europas gelegene GI-Clubs, etwa in Lybien und Marokko. Aus einem 14tägigen Probe-Engagement in Göteborg werden vier Monate im „Rotundan“, gefolgt von weiteren vier Monaten in einem Stockholmer Club. In dieser Zeit arbeitet sie mit einigen der bekanntesten Jazzinstrumentalisten Schwedens zusammen.
In der Jazzhauptstadt
Seit 1957 hatte Inge Brandenburg ihren Wohnsitz in Frankfurt am Main, das damals als „Jazzhauptstadt der Republik“ gilt. Bestärkt durch den Erfolg in Schweden traut sie sich im Frühjahr 1958 erstmals auf die Bühne des Frankfurter Jazzkellers. Im Mai des gleichen Jahres gibt sie ihr Debüt beim 6. Deutschen Jazzfestival Frankfurt und wird im Anschluss von der Presse als Entdeckung gefeiert. Es ist das Festival, auf dem auch das Jazzensemble des Hessischen Rundfunks erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Von da kommt diese Gruppe hochkarätiger Instrumentalisten um die Brüder Mangelsdorff und den Tenorsaxofonisten und Arrangeur Joki Freund regelmäßig zusammen, um Aufnahmen für den Sender einzuspielen.
Ab Januar 1959 geht Inge Brandenburg zum ersten Mal mit ihnen ins Studio. Im Juli 1960 will sie beim 1. Europäischen Jazzfestival in Juan-Les-Pins mit ihnen auftreten. Doch dazu kommt es nicht. Statt des hr-Jazzensembles reist nur das Albert Mangelsdorff Quintett nach Südfrankreich. In Marc Böttchers bewegendem Dokumentarfilm „Sing! Inge, sing!“ erzählt die Protagonistin, wie der Posaunist dort kurz vor dem geplanten gemeinsamen Auftritt abgelehnt habe, sie zu begleiten. Jeder Band seien nur 20 Minuten Spielzeit zugestanden worden und Mangelsdorff habe diese kostbare Zeit nutzen wollen, um sein Quintett zu präsentieren. Wie auch immer es gewesen sein mag: Inge findet Musiker, die sie spontan begleiten und wird zur besten europäischen Jazzsängerin gekürt, und das, obwohl sie mit Rita Reys und deren eingespieltem Trio starke Konkurrenz hat.
Plattenkarriere
Nun zeigt endlich auch die Plattenindustrie Interesse. Ein Vertrag mit der Teldec garantiert Inge Brandenburg Jazzaufnahmen, wenn sie im Gegenzug bereit ist, auch Schlager einzusingen. Natürlich wittert die Plattenfirma hier den größten Profit und produziert zunächst reihenweise Schlager, einer dümmer als der andere und keiner geeignet von einer lebenserfahrenen Frau mit dunkel funkelndem Timbre gesungen zu werden. Erst auf kontinuierliches Drängen gesteht man Inge Brandenburg schließlich auch Jazzaufnahmen zu, die Werner Müller zwar als Produzent betreut, aber nicht mit seinem RIAS-Tanzorchester einspielt. Stattdessen werden die Probeaufnahmen verwendet, die Inge Brandenburg mit einer kleinen Combo um den Berliner Baritonsaxophonisten Helmut Brandt gemacht hatte. Fünf Titel erscheinen 1960 auf „Herzlichst Inge“, einer sogenannte EP- oder Extended-Play-Platte. Sie blieben zunächst ihre einzigen erhältlichen Jazzaufnahmen.
1966 schließlich erscheint bei CBS Deutschland die LP „It’s alright with me“ mit Inges damaliger Tournee-Band um den Vibraphonisten und Baritonklarinettisten Gunther Hampel. Damit ist die Plattenkarriere der Sängerin zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat. Zwar tritt sie weiter auf, beginnt aber auch als Schauspielerin zu arbeiten und gerät als Jazzsängerin nach und nach in Vergessenheit. 1993 träumt sie in einem Interview mit dem Jazz Podium, „es müsste mal irgendein Gönner daherkommen, der ein wirklicher Brandenburg-Fan ist. Es ist mein großer Traum, noch einmal eine schöne Platte oder CD zu machen. Ich finde, es müsste ein gutes Dokument hinterlassen werden.“
Die Geschichte dieser CD
Die auf dieser CD versammelten Aufnahmen schlummerten mehr als 5 Jahrzehnte im Archiv des Hessischen Rundfunks. Warum sie nie veröffentlicht wurden, darüber kann im Nachhinein nur spekuliert werden. Natürlich wurden sie damals nicht für eine Schallplatte, sondern für die Ausstrahlung im Radio produziert. Ab 1960 war Brandenburg zunächst bei der Teldec unter Vertrag und lag anschließend im Rechtsstreit mit Teldec und Polydor. Die streitbare Frau scheute keine Auseinandersetzung, weder mit Labelbossen noch mit Musikern. War allein dies in der damaligen Zeit höchst ungewöhnlich, konnte sie dabei auch noch recht ungehalten werden. Damit verscherzte sie sich so manche Sympathie. Nachdem es ab Mitte der 60er Jahre mit ihrer Gesangskarriere bergab ging, gerieten die Aufnahmen in Vergessenheit.
Im August 2008 lud mich die Frankfurter Gesellschaft für Geschichte ein, einen Vortrag über Inge Brandenburg zu halten. Als freier Mitarbeiter der Jazzredaktion des Hessischen Rundfunks recherchierte ich natürlich auch im Archiv des Senders und stieß so auf die vorliegenden 20 Titel. Eine Veröffentlichung bei Bear-Family ließ sich damals nicht realisieren, aber Labelchef Richard Weize stellte den Kontakt zu Mark Böttcher her, der bereits an seinem Dokumentarfilm arbeitete. Auf der 2011 erschienenen Begleit-CD zum Film wurden schließlich fünf der Titel aus dem hr-Archiv veröffentlicht, mehr als 5 Jahrzehnte nach ihrer Entstehung. Im Frühjahr 2015 führte hr2-kultur einen Programmschwerpunkt mit dem Titel „Der Sound der Freiheit – 70 Jahre Jazz in Hessen“ ein. In diesem Zusammenhang entstand die Idee zu einer begleitenden Schallplattenveröffentlichung aus dem hr-Archiv. So werden nun endlich alle Jazzaufnahmen Inge Brandenburgs mit dem hr-Jazzensemble öffentlich zugänglich macht.
Die Aufnahmen
gehören sicher zu den am sorgfältigsten produzierten Jazzaufnahmen in der gesamten Karriere der Sängerin. Dabei wurde unterschiedlicher Aufwand betrieben. Bei der ersten Aufnahmesitzung im Januar 1959 ging man noch ganz ohne Arrangements an die Sache heran. Abgesprochen wurde offensichtlich nur, welcher Bläser Fills oder ein Solo spielt. Leider wurde für alle Sessions damals nur der Name des Ensembles festgehalten, nicht jedoch die der beteiligten Musiker. Alle Besetzungsangaben sind also lediglich wohl begründete Vermutungen, ausgehend vom Höreindruck und vom Wissen um die Standardbesetzung des hr-Jazzensembles zur entsprechenden Zeit. So kann man davon ausgehen, dass die sensiblen Flöten- und Altsaxofon-Soli der ersten Aufnahmesession von Emil Mangelsdorff stammen. Dusko Goykovich dürfte der Trompeter und Joki Freund der Tenorsaxofonist gewesen sein. Albert Mangelsdorff greift im 1., 3. und 4. Titel offensichtlich zu seinem ersten Instrument, der Rhythmusgitarre. Das tat er zu dieser Zeit gelegentlich, wenn ein typischer Swing-Rhythmus gefragt war.
Die zweite Aufnahmesitzung im September 1959 ist dagegen von Pepsi Auers wirkungsvollen Arrangements geprägt. Solistische Fills finden sich nur in Angel Eyes und wurden vermutlich von Joki Freund auf dem Tenorsaxofon gespielt. Inge Brandenburgs sensible Interpretation dieser Ballade gehört zu den Höhepunkten dieser Platte.
Mit „That Old Black Magic“ folgt gleich ein weiteres Glanzlicht: vom druckvollen Schlagzeug (vermutlich von Hartwig Bartz, der um diese Zeit Rudi Sehring am Drumset ablöste) über den temperamentvollen Gesang bis zu einem meisterhaften Posaunensolo von Albert Mangelsdorff begeistert es auf ganzer Linie. In „They All Laughed At Christopher Columbus“ wird die Trompete (Dusko Goykovich oder Stu Hamer) zum Dialogpartner der Vokalistin und „Skylark“ ist eine weitere grandios orchestrierte und interpretierte Ballade. Schade nur, dass der Tontechniker es hier etwas zu gut mit dem künstlichen Hall auf der Stimme meinte, vor allem nachdem die beiden anderen Titel dieser November-Session das Timbre der Sängerin in seiner unverfälschten Schönheit einfangen.
Im April 1960 geht Inge Brandenburg zum vierten Mal mit dem hr-Jazzensemble ins Aufnahmestudio. „You’re Not So Easy To Forget“ bekommt von Joki Freund einen schönen Arranger’s Chorus verpasst, bevor er vermutlich selbst ein kurzes Tenorsaxofon-Solo beisteuert. Leider lässt uns das Archiv darüber im Dunkeln, aus wessen Feder das dunkel gefärbte Arrangement zu „When Sunny Gets Blue“ stammt. In „Almost Like Being In Love“, kontrapunktiert Inge Brandenburg das lebhafte Arrangement aus der Feder von Joki Freund mit einem untrüglichen Gespür für Timing. Auch dieser up-tempo-Titel wird durch ein Posaunensolo Albert Mangelsdorffs veredelt.
Aus dem Musikerpool des hr-Jazzensemble speisten sich damals sowohl das Quintett von Albert Mangelsdorff als auch das von Joki Freund. Insofern ist es nicht allzu ungewöhnlich, dass Inge Brandenburg im Januar 1961 bei der nächsten Aufnahmesession im Hessischen Rundfunk vom Joki Freund Quintett begleitet wird. Falls sich die Ereignisse in Juan-Les-Pins im Juli 1960 tatsächlich so zugetragen haben sollten, wie die Sängerin es in „Sing! Inge, sing!“ darstellt, könnte das aber auch der Grund für eine anhaltende Verstimmung zwischen ihr und Albert Mangelsdorff sein. Emil Mangelsdorff erinnert im Übrigen, dass das Joki Freund Quintett zu jener Zeit häufiger mit Inge Brandenburg auftrat und eine feste Zusammenarbeit ins Auge fasste. So ließe sich erklären, warum die drei Titel dieser Aufnahmesession so unterschiedlich sind. Möglicherweise waren sie als „Demos“ für verschiedene Auftraggeber gedacht. Besonders das Rhythm-and-Blues-mäßig arrangierte „You Gotta Wail“ fällt aus dem Rahmen. Mit dem sparsam instrumentierten „I’ve Got To Pass Your House“ bringt diese Sitzung aber auch eine der schönsten Aufnahmen von Inge Brandenburg überhaupt hervor. Immer scheint in Inge Brandenburgs Gesang etwas von dem Leiden mitzuschwingen, das sie so reichlich bereits in jungen Jahren ertragen musste. Emil Mangelsdorff sieht hier durchaus Parallelen zu Billie Holiday, in deren Kunst eine ähnlich traumatische Lebensgeschichte zum Klang wurde. Dieser als großes Kompliment gedachte Vergleich muss natürlich relativiert werden, denn von ihrer Stimmlage, ihrem Tonumfang und ihrem technischen Können ist Inge Brandenburg viel näher an Sarah Vaughan als an Billie Holiday. Vielleicht besteht ihre Kunst darin, diese beiden gegensätzlichen Pole auf ihre ganz eigene Weise miteinander verschmolzen zu haben.
Im Juli 1961 steht die Sängerin zum letzten Mal mit dem hr-Jazzensemble im Aufnahmestudio, und Albert Mangelsdorff ist wieder mit von der Partie, wenn auch nur als Satzspieler. Inge Brandenburg offenbart in Titeln wie „Yardbird Suite“ und „Way Out There“ noch einmal ihr herausragendes Jazztalent und gewinnt in „You Don’t Know What Love Is“ einer weiteren oft gehörten Ballade ganz eigene Seiten ab. Geradezu metaphorisch erscheint das Ende, wo der Tontechniker der Aufnahme den Hall hochfährt: Inge Brandenburgs Stimme verschwimmt im Dunkel der Geschichte. Ist es nicht ein Wunder, dass sie uns immer noch erreicht, begeistert, beeindruckt und vor allem berührt?
Autor: Jürgen Schwab im April 2015
Wir danken Bear Family Records für die freundliche Nachdruckgenehmigung – www.bear-family.de
Copyright © Bear Family
Titelfoto: hr / Kurt Bethke
16.08.2015