Die Welt braucht das, was wir zu bieten haben – zwischen Alltag und Wunder

Interview mit der Musikerin Kerstin Wahl

Wer als Künstlerin nicht sichtbar ist, bekommt keine Arbeit oder Unterstützung, bleibt erfolglos. Und nur wer sichtbar ist, kann von Mädchen* als Role Model wahrgenommen werden. Sobald Künstlerinnen Kinder bekommen, wird es aber erheblich schwieriger, unter dem Druck der Care-Arbeit weiter die eigenen Projekten voranzutreiben. Die Musikerin und Mixed-Media-Künstlerin und dreifache Mutter Kerstin Wahl setzt sich in ihrem Projekt „Sichtbarkeit“ mit Musik, Poesie, Lyrik, Essays, Fotos, Illustrationen und persönlichen Statements mit diesem Thema auseinander. Das Ergebnis ist auf der CD „Fliehkraft“ (VÖ: 01.11.2023) und in einem aufwändigen Booklet zu hören und zu lesen.

Magst Du uns zuerst mal erzählen, wie Deine musikalische Biografie ist? Wann hast Du mit der Musik angefangen?

Ich glaube, es ging los, als meine Mutter eine Gitarre geschenkt bekommen hat, da war ich 4-5 Jahre alt. Immer wieder sind Leute im Wohnzimmer zusammen gekommen und haben Gitarre gespielt und gemeinsam im Kreis Volkslieder und Liedermacherzeugs gesungen. Dylan und Politisches und Friedenslieder waren da dabei. Dann klassisch Musikschule, Chor, Band und dann hat es irgendwann richtig gezündet, als ich auf den ersten speziellen Menschen gestoßen bin, mit dem Musikmachen zu einer eigenen Sprache wurde.

Wann und wie ist die Idee zu deinem Projekt entstanden? Welche Fragen bzw. Themen haben Dich beschäftigt?

Hauptsächlich fiel mir das Thema ein, weil in meinem näheren Umfeld einige Musikerinnen waren, die so viel haderten und sich latent so unter Wert verkauften, als wir quasi auf dem 2. Bildungsweg eine Musikweiterbildung machten. Einschließlich mir. Lernen, einen liebevollen Blick zu entwickeln, ist sehr wichtig. Wir machen das beruflich und bei unseren Kunden, als Lehrer*innen, als Mütter, aber uns und unserer Kunst gegenüber sind wir sehr hart. Natürlich muss man auch realistisch bleiben, was möglich ist. Unbedingt braucht es aber auch eine Vision als Motor und eine Sehnsucht, um mehr zu erreichen.

Der Titel „Fliehkraft“ lässt viele Assoziationen zu. Was verbindest Du mit dem Begriff?

Letztendlich geht es immer um das Leben selber. Es geht um Wunsch und Wirklichkeit. Und den Weg, der unserer ist. Wie ein Mond, der zwischen Fliehkraft und Gravitation auf seiner Bahn bleibt.

Wie bist Du bei Deinem Projekt vorgegangen, hattest Du schon ein detailliertes Konzept, bevor Du losgelegt hast oder hat sich das nach und nach ergeben? War Dir von Anfang an klar, dass Du nicht nur eine CD veröffentlichen willst?

Ich wollte in jedem Fall in poetischer Weise dem Ganzen auch visuell eine Gestalt geben. Wie das genau ausschauen könnte, wusste ich anfangs noch nicht, aber ich habe mich darauf verlassen, dass es sich beim Gehen zeigen wird. Ich liebe es, prozesshaft zu arbeiten. Natürlich ist mein Beruf als Gestalterin hier sehr hilfreich. Ich habe das nun mit dem Mediendesigner Matthias Horn in Form von Fotos realisiert. Sie zeigen Musikerinnen in spielerischer Weise mit eher typischen Dingen und Situationen aus unserem Alltag, auch gewollt lustig inszeniert. Im Sandkasten, mit schwingendem Kochlöffel und Geigenbögen, beim Aufhängen von Notenblättern auf die Wäscheleine…

Du hast Claudia Lattner (Keltische Harfe), Caroline Bäßler (Klarinette, Glockenspiel, Backing Vocals), Heidi Lutz (Violine), Manuka Krolikowski (Klavier) und Michael Bedersdorfer (Gitarre) eingeladen, an Deinem Projekt mitzuwirken. Wie habt Ihr Eure gemeinsame Arbeit gestaltet? Habt Ihr Euch als temporäre Band formiert?

Wir haben eher einzeln im Duo gearbeitet. Meistens bei mir in meinem Atelier, aber durchaus auch remote. Einmal mit dem Zug zum Rekorden in‘s Saarland, das ganze Zeugs klitzeklein verstaut, alles aufgebaut und dann gab es da einen Stromausfall, das ganze Dorf war und blieb dunkel. Das war sehr besonders. Wunsch und Wirklichkeit – viel wollen und dann sehen, was tatsächlich möglich ist. Allerdings hatten wir das Vergnügen, bei einem Konzert zu viert zu spielen. Michael ist nicht aus unserer Ecke und auch immer sehr gefragt. Es war super, dass wir dieses Konzert gemeinsam gespielt haben. Mit Caro und Claudi arbeite ich latent weiterhin in einem Trio zusammen, das ist ein sehr schöner Benefit.

Stammt die Musik/die Melodien von Dir oder habt Ihr sie gemeinsam entwickelt?

Die Stücke an sich habe ich alle selber komponiert. Konzeptionell wollte ich 1:1 auch zusammen einzelne Stimmen für das jeweilige Instrument entwickeln. Es war toll zu sehen, wie unterschiedlich wir Musiker*innen arbeiten. Manche lieber mit Noten, manche intuitiver. Es gab so einen inspirierenden Austausch. Nebenbei habe ich dann natürlich auch Interviews zum Thema Sichtbarkeit und Vereinbarkeit von Familie, Kunst und Beruf geführt. Mir war es wichtig, dass etwas Persönliches einfließt in die Musik. Eine Berührbarkeit mit den Stücken und den Texten. Das war schon großartig. Wenn Dir jemand sagt, dass sie Dein Stück im Ohr hat beim Spazierengehen… es mit sich herum trägt, bewegt, das ist besonders. Das Arrangieren und Produzieren habe ich alleine gemacht, das war unglaublich viel Arbeit. Das hat mich selber überrascht, wieviele künstlerische Entscheidungen und Gestaltung nach dem Aufnehmen noch ansteht.

Du hast eigene Songs veröffentlicht, vertonst aber auch Dichtungen von Ingeborg Bachmann und Annette von Droste-Hülshoff. Was hat Dich daran gereizt?

Ich finde die metaphernreiche und rätselhafte Sprache von Bachmann Gedichten einfach faszinierend, teilweise trage ich diese Sätze schon 20 Jahre mit mir herum, ohne sie vollständig zu fassen… aber sie waren immer wie eine Musik in meinen Ohren und nach Jahren plötzlich wird dann tatsächlich ein Lied daraus und ich beginne zu begreifen. Ich liebe es, diese Zeilen in einen anderen Kontext zu stellen und sie so auch eventuell einem ganz anderen Publikum nahe zu bringen. Droste-Hülshoff haben wir in der Schule gelesen. Eine der ganz wenigen weiblichen Protagonistinnen, die in der Schule behandelt wurden. Beide Künstlerinnen waren ihre Zeit ja auch weit voraus. Sie wollten unabhängig sein. Droste hat im 19. Jahrhundert gelebt. Sie wollte sich nicht anpassen, musste sich aber mit den Gegebenheiten arrangieren, da es ihr an Möglichkeiten und finanziellen Mitteln fehlte, daraus auszubrechen. Ihr blieb das Künstlerische als Zuflucht.

In Deinem Projekt beschäftigt Dich die schwierige Frage, wie sich der Alltag mit Kindern, der Broterwerb und die eigene künstlerische Arbeit unter einen Hut bringen lassen. Darüber hast Du Dich im Laufe Deines Projekts mit Deinen Mitmusiker*innen und vielen weiteren Menschen ausgetauscht. Was haben Deine Gesprächspartner*innen erzählt, gelingt der Spagat bei den meisten trotz – oder vielleicht gerade wegen – schwieriger Bedingungen?

Um ehrlich zu sein, ob es an jedem Tag ein schöner Spagat ist, glaube ich nicht. Was ich heraushöre, ob mit, ob ohne Musik. Viele sehnen sich vor allem danach einfach mal unbeschwert zu sein, und mehr zu Lachen mit den Kindern. Was ich denke, was wir lernen können, ist das Spielerische bei all den Herausforderungen zu bewahren. Sich seiner Ressourcen, seiner Kraftquellen, aber auch seiner Grenzen bewusst zu sein und diese vielleicht auch fließend zu gestalten.

Was findest Du müsste dringend verbessert werden?

Die Strukturen sind hart und tief verankert und doch bleiben zum Glück nicht ganz so und vieles wandelt sich. Bedingungen für Förderungen werden angepasst, Altersbeschränkungen angehoben oder weggelassen, Kinderbetreuung wird förderfähig. Dennoch – Kunst und Kultur ist keine schöne Nebensache, die man sich leisten können muss. Sie macht uns auch zu Menschen und uns aus. Wir brauchen Zerstreuung und Wundersames, vor allem aber gemeinsinnschaffende Momente – und diese Arbeit muss auch entlohnt werden!

Lass uns mal über den künstlerischen Prozess sprechen. Ein Künstlerin, die viel mit Care-Arbeit zu tun hat, muss sich ihre Freiräume für das künstlerische Arbeiten erst schaffen und sehr sparsam mit ihren Ressourcen umgehen. Du hast ja selbst drei Kinder, wie ist/war das bei Dir?

Also erst einmal muss man sich das Ganze denken können, es muss vorstellbar sein. Ich hätte nicht geglaubt, dass es mir zustehen könnte, die Kunst so zentral zum Thema zu machen. Die Förderung hat mir da einen riesen Push und eine Motivation geboten. Es ging in meinem Fall auch nur, weil ich einen Partner habe, der dieses Projekt auch wollte und mich motiviert hat und mich ganz praktisch unterstützt hat. Da spielt natürlich auch mit, dass wir es uns leisten konnten, eine Zeitlang unsere Ressourcen so zu verteilen. Aber all die Jahre zuvor war fast nichts möglich. Das scheiterte auch tatsächlich an den Rahmenbedingungen. Platznot, fehlende Betreuungsmöglichkeiten und vor allem nicht ab- und eintauchen können. Ich finde, dass es sehr wichtig ist, für eine Weile ganz rauszugehen, damit die Maschine warm läuft, sage ich mal, und dann auch mal Fahrt aufnehmen kann. Ich habe immer schon ein wenig geübt vorher, da ich gewohnt war, temporär ein paar Tage von wo anderswo aus zu arbeiten. Ich hab das also nie ganz aus den Augen verloren, wie es ist, wenn man seiner Verantwortung der Familie gegenüber temporär enthoben ist. Und vor allem in einem guten Gefühl weg sein kann. Ein schlechtes Gewissen hatte ich trotzdem oft genug. Das ist ein eigenes Thema…

Im Mittelpunkt Deines Projekts steht u.a. die Frage, wie Frauen im Kulturbetrieb sichtbarer werden können. Denn „Unsichtbar sein bedeutet, nicht genug Arbeit, Unterstützung und Ressourcen zu bekommen, weder finanziell noch psychologisch noch in Form eines tragenden Netzwerks“, schreibst Du im Booklet. Bis heute entscheiden aber vor allem Männer, welche Kunst/Musik in einen Kanon aufgenommen, wer sichtbar und letztlich wer erfolgreich wird… bisher scheint es also eine Art „Gütesiegel“ zu geben, das nur wenige exzellente Musiker (!) bekommen. Am Anfang müssen wir uns aber erstmal selbst entscheiden: wir müssen uns „erlauben“ Kunst zu machen, und das Tätigsein als „Künstlerin nicht nur als Nebentätigkeit zu sehen, die ich eben mache, wenn noch irgendwie Zeit dafür bleibt“, wie es Deine Kollegin Caroline Bäßler beschreibt. Also das eigene künstlerische Potential ernst zu nehmen… !

Ja, da schwingt so viel Wahrheit mit. Wir müssen daran glauben, dass die Welt das, was wir zu bieten haben, braucht. Und so ist es auch. Es kann einem schwindelig werden, was die Welt gerade noch alles so braucht. Soziale Gerechtigkeit, mehr Nahrungsmittel, bessere Bedingungen, Frieden. Das zuallererst. Aber letztlich kann ich nur dort wirksam sein, wo ich bin. Da fange ich mal mit Frieden an – mit einem wohlwollenden Blick.  Ja, davon hatte ich es ja schon mal.

Mehr Sichtbarkeit bedeutet automatisch auch beurteilt zu werden, was im Haifischbecken Musikindustrie ganz schön brutal sein kann. Ich hab noch gut in Erinnerung, wie dünnhäutig ich war, als ich mein erstes Kind bekommen habe. Dieser Wechsel zwischen den Welten ist mir sehr schwergefallen: da war der Alltag mit meinem Baby bzw. Kleinkind, ein intimer safe space, in dem eine eher vulnerable und behutsame Atmosphäre herrschte. Abends dann der Auftritt mit meiner Band, laut und vor Publikum, als Frontfrau und Bandleaderin maximal exponiert und der Beurteilung ausgesetzt… Das ist auch ein Spagat! Gleichzeitig fragt frau sich, ob sie das zum Thema machen sollte. Du hattest ja auch erst Bedenken, ob Du die Mutterschaft überhaupt zum Thema machen sollst, schreibst Du im Booklet. Wie waren die Reaktionen auf Dein Projekt?

Ich muss sagen, es war so, dass ich einige überwältigende Feedbacks bekam, die so sehr aus dem Herzen kamen, aus der Seele. Zum Beispiel, dass bei „Sichtbarkeit“ im Booklet angesprochen wird, bzw. ausgesprochen wird, wie es sich bei sich selber anfühlt. Also natürlich von Frauen und Künstlerinnen, die selber Mütter sind. Das ist wunderbar. Aber ich muss auch sagen, dass dies nur geschehen konnte, weil es eben diese Förderung gab. Es kam jetzt noch niemand auf mich zu und meinte, „coole Sachen, hier hast du Budget, ich bin so berührt von deiner Arbeit. Mach weiter“. Berührt hat mich aber auch mein Crowdfunding. Auf der einen Seite gab es da Summen zwischen 10 und 200 Euro und beide haben mich soooo happy gemacht und auf der anderen Seite fiel mir aber auch auf, wie unendlich schwer es ist, für das, was man macht, für das, wofür man auch gefeiert, gelobt, what ever wird – einen finanziellen Gegenwert zu bekommen… den ich ja letztlich brauche, um das, was ich kann, auch zu machen…

Ach ja, mit jemand aus der Musik-Industrie hatte ich auch  Kontakt, das war ein interessantes Gespräch, aber hätte ich alle Ratschläge befolgt, wäre es eben nur eine CD geworden, wie es eben 1000 gibt. Mir war das aufwendige Booklet in dem „komischen Format“ und den empowernden Texten sehr wichtig. Weil es mein Projekt auch unique macht. Und weil es eben mehr sein soll als nur Musik. Die uns ja so unverhältnismäßig und immer und quasi „umsonst“ zu Verfügung steht. Es freut mich übrigens ungeheuer, dass Melodiva auf mich aufmerksam wurde und ich eingeladen wurde, über dieses tolle Projekt zu berichten. Deine Fragen sind sehr inspirierend! Und es motiviert mich weiter zu machen.

Ich weiß noch, dass ich unheimlich damit zu tun hatte, meine eigene Transformation zur Mama zu verarbeiten. Die Schwangerschaft, die Geburt meines ersten Sohnes, das Stillen, die ständige Müdigkeit – plötzlich dreht sich alles 24/7 nur noch um eine Person, und Du musst Deine eigenen Bedürfnisse radikal zurückstellen. Eigentlich perfekt, um darüber Songs zu schreiben! In dieser Zeit hätte ich aber gar nicht die Kraft gefunden, mich weiter künstlerisch zu betätigen. Wie hast Du das erlebt?

Ich hatte damals auch keine Kraft. Das musste jahrelang reifen. Irgendjemand meinte zu Beginn des Projektes, „Hä? Du hast doch gar kein kleines Kind…?“ Bitte? Also, ich habe ja immerhin 3, das ist ein Universum von Unwägbarkeiten und Glück und eines davon geht noch in den Kindergarten. Aber so etwas macht schon was mit einem. Ist es „wieder nicht genug“, was ich mache… Ich mach das mit der Musik andersrum. Vor den Kindern habe ich meine Grafikdesign-Agentur aufgebaut und jetzt habe ich, motiviert auch von den Förderungen, angefangen Musik zu machen und zu komponieren. Ich finde das selber mutig. Es freut mich ungemein, dass beim MWK (Minsterium für Wissenschaft und Kunst, Anm. der Red.) jemand sitzen muss, der oder die meine Konzepte für Projekte wichtig und unterstützenswert findet. Dass unbekannte Künstlerinnen, die eine Vision und eine Message haben, Förderungen bekommen, dass man nicht erst, wenn man bei Universal ist, seinen Mund aufmacht (wenn man sich dann überhaupt traut) und dass wir Vorbilder finden aus unserer nahen Gegenwart. Denn viele wunderbare Musikerinnen und Künstler gibt es im Hintergrund, die haben keine 1.000.000 Follower und keine Verträge, aber sie machen Musik für und mit Menschen, in Schulen, Workshops, nahbare Formate auf kleinen Bühnen und Kulturbetrieben. Die beleben unsere Städte und Dörfern mit ihrer Kunst. Und für diese Menschen habe ich das Projekt gemacht. Ich bin ja eine von ihnen.

Um so schöner, dass ich so eine große Bandbreite an Musiker*innen dabei hatte, welche am Anfang ihres Weges, Profis auf Bühnen mit Tausenden Leuten und welche von der Musikpädagogik, die eher im Hintergrund agieren. Ich finde das sowieso schön. Zusammen arbeiten auf unterschiedlichen Leveln. Im Tanz gibt es dafür den Begriff „Danceability“. Das hat bei uns sehr gut funktioniert und wir können so viel voneinander lernen.

Du hast Dich mit anderen Musikerinnen darüber ausgetauscht, wie ihr besser mit Euren Ressourcen umgehen könnt. Hast Du Tipps, die Du teilen willst?

Gerne. Ganz wichtig: das eigene künstlerische Potential ernst zu nehmen…! Unbedingt Rausgehen und aber auch sich Zeit nehmen zum Schlafen… nicht nur wenn man kleine Kinder hat. „Regeneration und Muse“. Das, was wir nicht tun können und gegen das wir uns entscheiden oder was nicht möglich ist, gehört auch zu uns und unseren Ressourcen und unserem künstlerischen Weg. Vielleicht wissen wir das manchmal im ersten Moment noch nicht wertzuschätzen.

Die Sichtbarkeit von Frauen im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb ist Dir auch deshalb wichtig, damit Frauen von Mädchen als Role Models wahrgenommen werden können. Wie war das bei Dir selbst, hattest Du starke Vorbilder?

Wenn ich mir die Musikerinnen ansehe, die mich fasziniert haben, waren das in jedem Fall Persönlichkeiten, die sich für emanzipierte Themen eingesetzt haben. Aber sie waren so weit weg, auf großen Bühnen, und eben so abhängig von der Industrie… Leider hatte ich als Jugendliche in meinem direkten Umfeld eher keine direkten starken Frauen als Vorbilder. Mich hat eher die wahrgenommene Unterdrückung berührt und entsetzt. Wenn es um Ausgrenzung, Abwertung ging. Jetzt fällt mir doch noch ein starkes Vorbild ein aus meiner Studienzeit. Eine Dozentin für Songwriting hat bei einem ihrer Auftritte aus ihrem Leben erzählt, sie hat in ihren ganz frühen Jahren auch einen Disco-Hit in den 80ern gehabt. Sie meinte, dass sie aber erst mit 50 Jahren begann, das zu tun und zu lieben, was sie machen wollte. Vorher hat sie sich so verbogen und teilweise auch Übergriffiges von Seiten einiger Verantwortlicher aus der Branche erlebt und für den Weg des Erfolges über sich ergehen lassen. Ich wünsche mir, dass junge Musikerinnen heute viel selbstbewusster sind und nichts über sich ergehen lassen müssen.

Hast Du Töchter? Falls ja, tauscht Ihr Euch über diese Themen aus?

Oh ja, in der Tat. Mit meinem Sohn übrigens auch…

Du hast im Rahmen des Impulsprogramms „Kultur trotz Corona“ eine Projektförderung vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst vom Land Baden-Württemberg bekommen. Ohne diese hättest Du dieses aufwändige Projekt wahrscheinlich nicht verwirklichen können. Bräuchte es mehr Projektförderungen für Musikerinnen* mit Kindern, damit sie durch ihr Muttersein keine Benachteiligung erfahren?

Da gab es in letzter Zeit zum Glück einige davon. Es ist gefühlt jedoch so, dass es wieder am Kippen ist. Dass es diskriminierend ist, Diskriminierte zu fördern, weil man ja jetzt Männer ausgrenzt…. das ist verrückt. Ein wenig ist es vielleicht mit der Umweltpolitik gerade auch so. Ich finde es sehr wichtig, dran zu bleiben am Thema. Nie war es besser (in Deutschland), würde ich sagen, für junge Frauen und LSBT*Q sichtbar zu werden, die Zeichen stehen günstig. Allerdings überall auf der Welt scheint sich manches gerade aber auch wieder ins Gegenteil zu kehren. Da müssen wir wachsam sein, die Errungenschaften sind so alt nicht. Das Wahlrecht bei uns gerade mal ein bisschen über 100 Jahre, seit 48 Jahren dürfen verheiratete Frauen ein eigenes Konto eröffnen… so lang ist das alles noch nicht selbstverständlich. Und in der Wissenschaft, der Ausbildung und im Beruf müssen diversere Rolemodels sein und viel mehr von den Errungenschaften toller Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Arbeiterinnen berichtet werden.

Ich wünsche mir sehr, dass wir eines Tages einfach nur Menschen sind. Egal welches Geschlecht, woher wir kommen. Wir sind verbunden und abhängig voneinander auch. Es betrifft uns, wenn am anderen Ende der Welt die Wälder brennen… das merken wir gerade immer mehr. Und dennoch gilt, ich kann nur in meinem direkten Umfeld beginnen, GameChanger zu werden. Einfach mal mehr zuhause vor sich hinsingen, das beruhigt. Eine Freundin von mir pfeift immer ein fröhliches Lied, wenn sie bei ihren Tieren im Stall ist; es ist, als würden die Tiere beginnen zu tanzen, wenn sie den Raum betritt. Die Stimmung hebt sich. Sie hat übrigens 5 erwachsene Kinder, wirkt eher im Stillen als Musikpädagogin und ihre Arbeit ist so wichtig! Abseits von Stress und Leistungsdruck finden ihre Musikvorspiele auf einer Waldlichtung mit dem Gezwitscher der Vögel und dem Meckern der Ziegen von nebenan statt. Das ist wunderschön. Mit so viel Leichtigkeit, Wärme und Liebe – so wäre ich auch gerne an die Musik und an das Auftreten in der Öffentlichkeit herangeführt worden.

Live:
03.10.2024 Bad Boller Straßenmusikfest (Trio)
15.10.2024 Open Stage Schwanen, Waiblingen (Trio)
20.10.2024 Lauschkonzert, Geburtshaus Stuttgart Mitte 17-18 Uhr (Duo)

 

CD Fliehkraft (2024) (MELODIVA Spotlight)
Ein Gesamtkunstwerk und eine ästhetische Auseinandersetzung mit Musik, Poesie, Lyrik, Essays, Fotos, Illustrationen und persönlichen Statements. CD & Booklet mit 44 Seiten können hier bestellt werden.

 

Infos

Foto von Kerstin Wahl mit Harfe: Matthias Horn

Autorin: Mane Stelzer

12.08.2024