„Der hellste Stern am Himmel“
zum Tod von Rosanna Tavares (BRA/D)
Rosanna Tavares (uns allen bekannt im Duo „Rosanna & Zélia“) ist am 9. Oktober 2006 nach langer schwerer Krankheit in ihrer Heimat in Minas Gerais in Brasilien gestorben.
Wir alle trauern um eine wundervolle Frau, Komponistin, Performerin und Musikerin, die uns allen mit ihrer melancholischen Stimme und Zartheit im Gedächtnis bleiben wird.
Rosanna wurde am 7. Nov. 1961 in Nanuque/Minas Gerais geboren und lebte seit Anfang der 90er Jahre in Frankfurt am Main.
Rosanna gab mit ihrer langjährigen Duopartnerin Zélia Fonseca und Angela Frontera im Herbst 2004 anläßlich der Musikrevue im Rahmen des Jubiläums des Frauen Musik Büros im Frankfurter Südbahnhof eines ihrer letzten Konzerte hier im Raum. Über 40 beteiligte Musikerinnen säumten den Bühnenrand und lauschten der von ihrer Krankheit gezeichneten Musikerin und dankten ihr für ihren Mut und ihre Kraft, nicht aufzugeben und ihre Musik den Menschen zu schenken. Diesen Moment werde ich, und ich denke, ich kann für fast alle dort sprechen, nie vergessen. (Anne Breick, Frauen Musik Büro)
Den folgenden Text „Lady Multimelancólica“ schrieb ein Freund Rosannas, der Musikjournalist Detlef Kinsler:
Wer im Publikum nicht genau wusste, wie krank die Sängerin da auf der Bühne wirklich war, dem wäre das nie in den Sinn gekommen, weil sie die Songs des neuen Albums „Águas-Iguais“ im Rahmen von Weltmusik im Palmengarten im Sommer 2004 mit so viel Gefühl und Leidenschaft, Energie und Lebensfreude präsentierte, wie man das von Rosanna Tavares eben gewohnt war. Im gleichen Jahr gingen Rosanna & Zélia noch auf Norwegentournee, selbst 2005 gab es noch Auftritte in Athen und auf Sizilien – ein Zeichen der unglaublichen Willenskraft der fragilen Frau, die ihre schwere Krankheit auch mit ihrer Musik bekämpfen wollte.
Doch nun kam am 9. Oktober die traurige Nachricht, die eigentlich niemand hören wollte. Rosanna ist im Alter von nur 44 Jahren im Kreis ihrer Familie in Minas Gerais gestorben.
Wer sie je auf der Bühne erleben durfte, war verzaubert von diesem Wesen, von der Poesie ihrer Texte, die jedem – auch wenn er kein portugiesisch verstand – nahe gingen, von der klaren Schönheit ihrer Stimme, ihrer Art, Melancholie und Leichtigkeit gleichzeitig zu verkörpern und der Fähigkeit, ihr Publikum zu fesseln und mit einer faszinierenden Selbstverständlichkeit dazu zu bringen, die rhythmisch und melodisch schwierigsten Passagen mitzusingen, ob im intimen Rahmen des Frankfurter Jazzkellers oder beim einem Festival – sie erreichte die Menschen immer.
Ihre Reise, die sie von Brasilien über Portugal und Finnland nach Frankfurt führte, wo sie eine zweite Heimat fand, ist nun zu Ende. „Aber sie strahlt als ein ganz heller Stern vom Himmel“, sagt Zélia Fonseca, ihre langjährige musikalische Partnerin, die das Erbe von Rosanna & Zélia, die noch im Sommer diesen Jahres neue Songs zusammen schrieben, weiterführen wird. Für alle Melodiva-Leserinnen, die mit der Geschichte dieser wunderbaren Frau nicht vertraut sind, folgt hier ein kleiner Einblick in die Arbeit von Rosanna & Zélia, auch in der Hoffnung, dass diese einzigartige Musik noch neue Freunde finden wird.
Die Geschichte von Rosanna & Zélia ist die Geschichte einer Reise, die in Minas Gerais ihren Anfang nahm und die beiden Musikerinnen über Portugal und Finnland nach Frankfurt führte. Dort nahmen sie 1993 zunächst die Live-CD „Contra O Mau Humor“ auf, um drei Jahre später mit „Passagem“ das erste Studioalbum zu realisieren.
Die Zeit zwischen den beiden Aufnahmen haben Rosanna Tavares (Gesang, Gitarre, Percussion) und Zélia Fonseca (Gitarre, Bass, Gesang) gebraucht, um sich zu akklimatisieren, die richtigen Freunde und Musiker zu finden, sich in der Konzertlandschaft bundesweit zu positionieren und – am allerwichtigsten – ihren eigenen Stil zu entwickeln. So galt es, erst einmal einen neuen Bezug zur eigenen Folklore und den unbekannten Umgang der Musikschaffenden hier mit Klassik, Jazz und Pop, dem ganzen Schubladendenken also, zu finden.
„Fern der Heimat erkennt man seine Kultur ganz anders, lernt sie besser zu verstehen. Das war fast wie eine Entdeckung. Alles war plötzlich wie neu. Selbst der Bossa Nova – das war für uns bis dahin alte Musik, die war vorbei. Hier haben wir ganz wertfrei die Schönheit dieses Stiles wiederentdeckt. Auch damit, wie mit all den anderen Spielarten der facettenreichen Musik Brasiliens, wollten wir auch spielen“, definierten sich Rosanna & Zélia neu.
Der Albumtitel war dabei Programm (1996) . „Passagem“ steht für Reise, Durchreise, den Weg, die Fahrkarte und den Brückenschlag, auch zwischen den Kulturen. So gingen die beiden Musikerinnen zurück zu den afro-brasilianischen, aber auch indianischen Wurzeln ihrer Musikgeschichte. Gleichzeitig ermöglichte ihnen gerade auch die Begegnungen mit außerbrasilianischen Musikkulturen in der Zusammenarbeit mit den deutschen Musikern Eberhard Hahn und Ernst Ströer sowie dem Bandoneon-Star Dino Saluzzi ganz neue Horizonte für die eigenen Kompositionen.
Besonders das Spiel des Argentiniers unterstrich die Melancholie solcher Songs wie „Sobre A Solidão“ in einem Maße, daß ganz offensichtlich wurde: „Die Musik ist weit entfernt von jeglichem Karneval- und Postkartenklischee“, wie in der Kasseler Zeitung zu lesen war. „Die beiden Frauen experimentieren mit Lautmalereien, kunstvollen Balladenstimmungen, Kreuzungen aus Reggae und Samba und religiöser Ritualmusik“, stand in Stereoplay.
Gerade die Melancholie verwundert immer wieder viele Zuhörer, die vor allem die ausgelassene Musik des Karnevals zwischen Rio und Bahia im Ohr haben. Hier kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt der Reise zurück: nach Minas Gerais, dem brasilianischen Bundesstaat, der mit seiner faszinierenden Mischung aus Natur und Kultur immer wieder viele Besucher verzaubert.
Diese Region hat im Vergleich mit dem Rest Brasiliens einen Menschenschlag hervorgebracht, der anders empfindet und denkt, politisch wie kulturell. Vielleicht ist der Mineiro introvertierter, in sich gekehrter, auch melancholischer als die als überschwenglich beschriebenen Bewohner Rios oder Bahias. Diese Mentalität spürt man vor allem auch in der Literatur, der Poesie und der Musik, die nachdenklicher und spiritueller ist. Schließlich ist Minas Gerais der kreative Lebensquell solch bedeutender Musiker wie João Bosco und Milton Nascimento, in deren Tradition sich Rosanna & Zélia auch verstehen.
Mit dem zweiten Album „Coisário“ (1999) setzten Rosanna & Zélia nun ihre Reise fort. Seit den Aufnahmen zu „Passagem“ waren viele neue, interessante Erlebnisse und Erfahrungen zu verarbeiten. Tourneen und Festivalauftritte in Deutschland (darunter die „Ludwigsburger Jazztage“ und die „Afro-brasilianischen Nächte“ in Tübingen), dem angrenzenden Ausland sowie in Kanada, der Austausch mit vielen interessanten KollegenInnen wie Carlinhos Brown, Maria João, Noa, Sally Nyolo oder Badi Assad sowie Cooperationen mit dem Frankfurter Dance´n´Trance-Spezialisten Shantel und dem zwölfköpfigen Fusionensemble Expedicion.
„Coisário“ wurde wieder zusammen mit Johannes Wohlleben im Tonstudio Bauer aufgenommen. Neben den konzerterprobten Bandmitgliedern, der Percussionistin und Schlagzeugerin Angela Frontera, dem dritten Bandmitglied, dem Bassisten Franco Petrocca und den von „Passagem“ bekannten Studiogästen Ernst Ströer und Dalmá Lima an Berimbau, Timba, Vase, Agôgo und Conga luden Rosanna & Zélia diesmal weitere Musiker ins Studio ein – für einen noch größeren Klangfarbenreichtum und ein zusätzliches, emotionales Ausdruckspotential.
„Coisário“ ist eine Wortschöpfung des Meisterpoeten des magischen Realismus in Brasilien, Manoel de Barros. Es steht für ein imaginäres Behältnis, in welchem man alle sichtbaren, aber auch unsichtbaren, reale wie alle erfundenen und auch die noch nicht ersonnenen Dinge aufbewahrt und auch gemischt werden können. Dieses Prinzip läßt sich auf Rosanna & Zélias Art zu komponieren und zu texten, auf ihre Suche nach Klängen übertragen. Wörter, Töne, Bilder, Gerüche, Gefühle, Träume gehen in die Lieder ein, wie z.B. „Moldura“ – dieser wunderschöne, zum Ende hin von Streichern unterstützte Schwebezustand formt sich langsam heraus aus der wellenförmigen Bewegung eines Besens über ein Schlagzeugfell und undefinierbaren Drone-Sounds und einem Rap-ähnlichen Erzählstil in der Strophe.
„Vagalume“ – der Rhythmus dieses leichten Maracatu wird vom dumpfen Klang von Dalmá Limas Vase mit ihrem Tabla-ähnlichen, aber eben nicht hohen, metallischen Klang bestimmt. „Augenlicht – Kerzenlicht – Blitzlicht für die Nachwelt“. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Ivan Santos´ Komposition „Lady Multimelancólica“ (nomen est omen) läßt die Zuhörer teilhaben an einer rätselhaften Begegnung mit einer geheimnisvollen Schönen. Die magische Atmosphäre wird eingefangen und interpretiert von zwei außergewöhnlichen Stimmen, die hier aufeinandertreffen: der von Rosanna Tavares und der von Katharina Franck von den Rainbirds. Kontrabass und Bassklarinette verlängern die mysteriöse Stimmung. „Jabuti“ lebt von den pumpenden Kontrabass-Figuren und den Funky-Gitarren von Zélia und Freundeskreis-Gitarrist Frank Kuruc, der hier solistisch glänzt. „Die Schöne ist´s, die die Kerzen anzündet, sagt sie betet, doch sie ist´s, die das Biest verführt
Auf „Coisário“ haben Rosanna & Zélia ihre musikalische Vision noch konsequenter und homogener umgesetzt. Die Emotionalität der Musik, die intensive Interpretation und die charmante Performance wird ihnen neue Hörerkreise erschließen, die die Songs trotz Sprachbarriere verstehen werden. Denn es sind auch Reisen in Seelen- und Gefühlslandschaften, die sich über Atmosphären und Klangfarben erfassen lassen.
Ab 2003 konzentrierten sich Rosanna & Zélia auf das Schreiben neuer Songs und die Vorproduktion des dritten Albums „Águas-Iguais“(2004). Die Produktion und den Vertrieb übernahm das bekannte Müncher Label „ENJA“ mit ihrem engagierten Chef und Musikliebhaber Mathias Winkelmann. Konzerttourneen sollten folgen, aber nur einige wenige Tourneen konnten realisiert werden.
Für diese Produktion trafen Rosanna & Zelia in Brasilien auf den Perkussionisten Paulinho Santos von der Kultgruppe Uakti, bekannt für ihr individuelles, teils eigens gebautes Percussion-Arsenal. Uakti spielten schon für den Minimal-Music-Pionier Philip Glass oder „Mr. Graceland“ Paul Simon. Bei einigen der neuen Stücke kommt außerdem ein Streichquartett hinzu, die G-Strings aus Hamburg, und verleiht der magischen Songkunst der Brasilianerinnen zusätzlich eine kammermusikalische Note.
Discographie
4. CD „Aguas Iguais“ enjarecords 2004
3. CD „Coisario“ peregrina music 1999
DVD „Postcard“ (Audio DVD/Peregrina Music – 2000)
2. CD Passagem peregrina music 1996
Debut-CD: „contra o mau Humor“ (now records – 1993) recorded live at Brotfabrik – FFM
Text: DETLEF KINSLER/Frankfurt
Intro (Vorwort): Anne Breick
FOTOS: Oscar Henn; Juan-Carlos Hernández; Blue; Anne Breick
Copyright: Redaktion Melodiva
29.11.2006