Angelika Niescier

Ich will eine große feine Riege...

Angelika Niescier zählt zu den innovativsten und künstlerisch herausragendsten MusikerInnen des zeitgenössischen europäischen Jazz. Am 28.10. erscheint ihre neue CD „quite simply“ und sie geht mit ihrem New Yorker Trio auf CD-Release-Tour. In einem Interview stellen wir Euch die Musikerin vor.

Die Kölner Saxophonistin mit den polnischen Wurzeln gewann im letzten Jahr den ECHO Jazz 2010 in der Kategorie Saxophon (national). Mit dem von ihr gegründeten Quartett „sublim“ hat sie inzwischen 3 CD’s veröffentlicht, mit denen sie diverse Preise und Auszeichnungen gewonnen hat.
Im Jahr 2008 war sie die erste
„Improviser in Residence“ der Stadt Moers, ein 1-jähriges Stipendium, das mit Konzerten zum Moers-Jazz-Festival endet. 2009 führte sie das Projekt „Glück auf – Jazz“ durch, hierfür komponierte und arrangierte sie Bergmannslieder und führte diese gemeinsam mit dem Bergmanns-Chor „MGV Concordia“ auf. 2010 war sie beim „Women´s Football Cup Arabia 2010“ und leitete das hochkarätige 11-köpfige „German Women JazzOrchestra“. (siehe https://www.melodiva.de/news/angelika-niescier-leitet-das-german-women-jazzorchestra/).

In diesem Jahr ging es Schlag auf Schlag weiter:
Mitte März ging es mit dem German Women JazzOrchestra auf Einladung des Goethe-Institutes zu Konzerten nach Alexandria und auf das
cairo jazz festival und im September 2011 auf eine Nahost-Tournee nach Libanon, Irak, Jordanien, Gaza, West Bank.
Dazwischen war sie auch noch in
Mexiko: Beim Artist-In-Residency-Programm des Goethe Institutes entwickelte sie in Mexico-City ein interdisziplinäres Projekt zusammen mit den mexikanischen Künstlern Wilfriedo Terazzas (Musik), Alicia Laguna (Theater), Anna- Magdalena Leite (Tanz) unter dem Arbeitstitel „Nationale Traumata“.
Ende September folgten dann Workshops und Konzerte beim Projekt
JAZZ.SCHULE.MEDIEN des Jazzinstitutes Darmstadt.
Außerdem nahm sie in New York noch eine neue CD auf!

Du hast schon ein ereignisreiches Jahr hinter Dir, und nun erscheint am 28. Oktober Deine neue CD „Quite Simply“ und am 27.10. gehst Du auf CD-Release-Tour (Termine siehe unten). Nach drei CD’s mit Deiner Band „sublim“ hast Du nun zwei sehr bekannte New Yorker Musiker an Deiner Seite. Wie kam es dazu?

mit TyshawnSorey

Ich kenne Tyshawn schon seit ca. 10 jahren. Wir haben uns auf seiner ersten Europa-Tour kennengelernt: Er hat auf demselben Festival mit Michelle Rosewoman gespielt, auf dem ich mit meinem Quartett sublim gespielt habe.
Thomas habe ich vor etwa 5 oder 6 Jahren bei einem der Steve Coleman Konzerte kennengelernt, als noch beide – Thomas und Tyshawn – bei Coleman mitgespielt haben. Mit Tyshawn war ich seitdem immer in Kontakt und wir wussten, dass wir irgendwann auf jeden Fall zusammenarbeiten werden. Dieser Zeitpunkt ist dann Anfang 2009 gekommen, als ich mein Abschlusskonzert nach dem Jahr als „improviser in residence“ in Moers gehalten hatte – unter anderem hat Tyshawn bei der genialen Besetzung des Abschlussprojektes mitgespielt.
Schon da habe ich die Trioidee gehabt – wir haben in der zeit zusätzlich 2 bis 3 Triokonzerte gespielt. Seitdem habe ich das Triomaterial weiterentwickelt und wir haben, immer wenn ich in New York war, geprobt und gespielt und daran gefeilt. Dass eine Cd aufgenommen werden muss, war dann auch klar. Zum Glück war Matthias Winkelmann von enja auch meiner Meinung – und so kam es zur „quite simply“.

Auch hier sind alle Stücke Kompositionen von Dir, worin besteht der Unterschied zu Deinen „sublim“-CD’s?

Nicht alle Stücke sind von mir. Ein Stück von Ornette „congeniality“ und ein Stück von Anthony Braxton „69-O“ ist dabei. Der Unterschied ist natürlich materialimmanent: Stücke für ein Trio in der Besetzung erfordern einen anderen Umgang mit dem musikalischen und kompositorischen Material, als z.b. Stücke für ein Quartett. Der Trio-sound bietet andere Möglichkeiten.
Das war auch die Prämisse: anders, offener, im gewissen Sinne „weiter“ mit dem Material umzugehen. Dafür sind Thyshawn und Thomas genau die richtigen Partner.
Die Stadt New York an sich als Inspiration, die Musik, die ich dort gehört habe, der spezielle sound im Studio und die „Hand“- oder eher „Klang“-Schrift des Tonmeisters haben alle zur Art der Musik beigetragen.

Ein weiterer Unterschied ist, dass ich bei kleineren Besetzungen immer persönlich für die Musiker, mit denen ich spiele schreibe, um möglichst ihre Besonderheiten, wie ich sie wahrnehme zu untersteichen, sie mit meiner musikalischen Auffassung zusammenzubringen, um so die Musik immer wieder von eben dieser Seite zu inspirieren. Das war hier bei Tyshawn und Thomas natürlich auch der Fall – ich habe die Musik speziell für die beiden entwickelt.

Deine Musik ist sehr anspruchsvoll und nicht leicht zum „Konsumieren“, wie schaffst Du es, Deine ZuhörerInnen in den Bann zu ziehen?

auf der Frauen Musik Woche 2008

Durch Live-Auftritte! Jazz, improvisierte Musik ist eine Live-Musik. Sie muss vom Zuhörer im Augenblick erlebt werden.
Ich mache gerne Cd-Aufnahmen, für mich sind diese aber eine Erweiterung, ein Zusatz zur Live-Performance.
Außerdem bin ich gegen eine Entmündigung des Publikums. Eben gerade „kompliziertere“, etwas ungewohntere Musik muss vom Zuhörer im Spielprozess erlebt werden, was natürlich bei improvisierter Musik und Jazz eine Art des aktiven Hörens, der aktiven Rezeption erfordert.
Aber die Passion, die Emotionalität der MusikerInnen transportiert die Kraft der Musik – und zwar jeder Musik(-art) – und es wird letztendlich gleichgültig, ob die Musik nun eher komplex ist oder nicht.

Wir kennen Dich persönlich seit 2008, als Du Dozentin auf der 11. Hessischen Frauen Musik Woche ein Jazz-Ensemble unterrichtet hast. Du warst damals gerade die neu eingerichtete „Improviser in Residence“ beim Jazzfestival Moers und wir waren sehr glücklich, als Du sofort zugesagt hattest. Wie wichtig ist das Unterrichten für Dich und was willst Du Deinen SchülerInnen vermitteln?

Ich fasse das Unterrichten an sich als einen wichtigen Teil der künstlerischen Weiterentwicklung auf. Durch die Weitergabe der Essenz der Musik und Passion dafür, unabhängig vom Sujet, ist eine bestimmte Fokussierung nötig, eben diese Essenz für jeden Teilnehmer auf jedem Niveau vermitteln zu können. Diese Fokussierung fordert eine Klarheit bei einem selbst, was eben auf die eigene Entwicklung gestaltend wirkt.

Um nochmal bei der „Frauen Musik Woche“ zu bleiben, im letzten Jahr hatten wir Silke Eberhard für das Ensemble Swing/Bigband engagiert und sie reiste damals am letzten Tag in aller Herrgotsfrühe nach Bahrain, wo das German Women´s JazzOrchestra unter Deiner Leitung Workshops und Konzerte gab. Wir haben damals darüber berichtet und fanden dieses Projekt im Rahmen der Frauen-Fußball-WM-Vorbereitung mit Workshops für Journalistinnen und Musiker sehr spannend. Was sind die bleibenden Eindrücke für Dich?

German Women’s JazzOrchestra in Bahrain

Auf jeden Fall mehr, als ich aufschreiben könnte…, ich versuche, die wichtigsten zusammenzufassen:
Die ganze Veranstaltung war natürlich zutiefst politisch – eine Frauen-Fußball-WM in einem arabischen Land – , begleitet von einer Frauenband. Dazu habe ich selbst noch die Musik geschrieben… Sich dieser Komplexität immer bewusst zu sein und trotzdem vor allem an der Musik zu feilen, die Band im Klang zusammenzubringen, trotz oder vielleicht wegen der Umstände wirkliche Musik passieren zu lassen, an diese Spannung werde ich mich noch lange erinnern.
Dazu kam noch, dass wir in den Räumen des Polizei-Orchesters geprobt haben, und ich später einen Workshop gab, plus Material mit der kompletten Band mit einigen der Musiker des Orchesters eingeprobt und aufgeführt habe. Das war unfassbar interessant – wie werden die Männer auf eine Leiterin reagieren? Es ging alles gut – nicht nur weil ich mit den „Jungs“ genauso umgegangen bin, wie ich mit jeder Person überall auf der Welt umgehen würde, sondern – auch ganz klar – weil ich, wie wir alle, einen Exoten-Status hatte. Wie die Stimmung gewesen wäre, wenn einheimische Musikerinnen (die es im übrigen gar nicht gibt) dabeigewesen wären, weiss ich nicht, aber ich vermute, das Ganze wäre dann doch nicht ganz so entspannt gelaufen – wenn es denn überhaupt stattgefunden hätte…

Das Wichtigste aber war: Ohne Zeigefinger und mit genau so viel Input wie Witz wurde klar: es geht. Männer und Frauen können zusammenarbeiten, es ist gar keine große Sache, es ist ganz natürlich… Ich hoffe dabei auf den subversiven Langzeiteffekt…, Basisarbeit sozusagen.

Inzwischen warst Du ja noch zweimal in der arabischen Welt, in Ägypten nach der Revolution und im Nahen Osten. Wie haben die Menschen auf die Musik reagiert und wie beeinflussen Dich solche Ausnahme-Erlebnisse?

in Turkmenistan 2007

Die Menschen auf unserer Tour haben ausnahmslos extrem positiv und sehr emotional reagiert. Die Eindrücke von solchen nahezu unfassbaren Erlebnissen sind tief, bleibend und sehr inspirierend.
Es ist immer eine sehr besondere Situation, mit meiner Musik in fremden Ländern sein zu können, wofür ich auch immer sehr dankbar bin. Die Menschen sind in den Ländern, die ich bisher besucht habe, so unterschiedlich sozialisiert, stecken in dermaßen unterschiedlichen Lebenssituationen – und trotzdem reagieren sie auf eine Art und Weise auf die Musik, die immer wieder beweist, dass Musik tatsächlich ein universelle Sprache ist. Diese Tatsache überrascht und erfreut mich immer wieder sehr.
Egal ob bei einem Solo-Saxophonkonzert in Mexiko, einem Quartett-Konzert in Bischkek, einem Trio-Konzert in Zagreb oder mit Bigband im Gaza-Streifen, die Musik schafft eine Verbindung zum jeweiligen Publikum, die ein reines Gespräch nicht herstellen könnte.

Hast Du das German Women´s JazzOrchestra zusammengestellt?

Ich habe die Besetzung mit Hilfe von Dr. Peter Ortmann, dem Leiter des deutschen Musikrates zusammengestellt.

Inzwischen seid Ihr ja schon mehrmals aufgetreten und habt begeisternde Erfolge erzielt, könnte das German Women´s JazzOrchestra eine feste Einrichtung bleiben?

Wir haben einige weitere Anfragen und Pläne. Solange es solche Pläne gibt, wird es das Orchester auch geben!

Ich erinnere mich an ein Filmportrait, das ich vor Jahren über Dich in arte TV gesehen hatte, da versuchtest Du das Goethe-Institut in Polen für eine Reihe von Konzerten zu gewinnen. Du hattest damals Deine erste CD veröffentlicht und wolltest unbedingt in Polen spielen, damit Dich Deine polnische Großmutter live hören konnte. Damals hast Du Dir die Finger wund gewählt und hast sehr viel Beharrlichkeit bewiesen, rühren daher Deine offensichtlich jetzt guten Kontakte zum Goethe-Institut?

Nein, ganz und gar nicht.
Wir hatten 2007 mit meinem Quartett sublim eine Tour in Zentralasien, nachdem wir 2006 bei der ersten Jazzmesse in Bremen auf dem ersten „german jazz meeting“ gespielt hatten. Danach hatte ich das Institut und zum Teil auch die Leiterinnen und Leiter, die ich kennengelernt habe, weiter über meine aktuellen Projekte informiert und auf dem laufenden gehalten. So ist eben die eine oder andere Zusammenarbeit entstanden.

Auf die Künstlerresidenz in Mexiko habe ich mich beworben – auf diese Residenzen kann sich jede/r Musiker/ Musikerin bewerben. Ich versuche die Möglichkeiten, die ich selbst kontrollieren kann – sprich mich eben zu bewerben oder über mich zu informieren – auch zu nutzen.

Jazzfest Bochum 2010, Foto: Jake Playmo

Du hast schon unheimlich viel erreicht und wirst als eine Vertreterin des deutschen Jazz im In- und Ausland präsentiert! Wie kriegst Du das alles hin? Liegt es daran, dass Du die beste Jazzerin in Deutschland bist oder ein Organisations- und Marketing-Talent oder beides?

Hahaha! Ein Organistions- und Marketingtalent bin ich auf jeden Fall nicht. Da gibt es durchaus andere, die weitaus besser sind. Ich versuche milde alles Nicht-musikalische und aber Relevante zu überblicken und habe mässigen Erfolg damit. Soweit ich kann, delegiere ich die für mich weniger angenehme Arbeit. Das Üben, Komponieren und Proben hat immer Vorrang.

Wie beurteilst Du den Frauenaspekt? Ist es für Dich von Vorteil, in einer kleinen feinen Riege von deutschen Jazzmusikerinnen zu sein? Oder ist es ein Nachteil gegenüber den deutlich zahlreicheren Männern im Jazz als Musiker, Veranstalter usw. und den daraus resultierenden männlich dominierten Netzwerken?

Die Netzwerke sind zwar männlich dominiert, das stimmt, aber ich erlebe keinen erkennbaren Nachteil, oder ich nehme diesen nicht wahr, weil ich es nicht anders kenne. Aber es ist grundsätzlich besser, wenn Netzwerke „geschlechtlich“ gemischt sind – idealerweise auch noch zu gleichen Teilen.
Und es ist auf keinen Fall von Vorteil, in einen kleinen feinen Riege von Musikerinnen zu sein.
Ich will eine grosse feine Riege.
Ich will, dass der Anteil der Frauen weit grösser als jetzt ist, bis hin zur Gleichverteilung.
Ich will, dass es endlich um Musik, um Inhalt geht.
Ich will, dass es viel mehr „natürlich“ gemischte Bands auf der Bühne gibt, weil es genug Frauen gibt, die in allen Jazzgenres und an jedem Instrument auf höchstem Niveau arbeiten und erfolgreich sind.

Wie wichtig sind Dir Frauenprojekte wie z.B. Das German Women´s JazzOrchestra oder auch die „Hessische Frauen Musik Woche“? Gerade erzählte uns eine Dozentin der diesjährigen Frauen Musik Woche, dass sie von ihren männlichen Kollegen dazu etwas belächelt wurde. Kennst Du auch solche verächtlichen Reaktionen und wie gehst Du damit um?

Improviser in Residence Moers 2008, Foto: Helmut Berns

Mich würde niemand zu belächeln wagen, hahaha!
Aber im Ernst: In meinem Umfeld sind nur Musiker, die sich der Problematik bewusst sind und die genauso wie ich (siehe oben) denken. Alle anderen Reaktionen sind unsinnig und mir persönlich einfach absolut egal. Aber leider sind sie generell gesehen nicht ganz so „egal“, weil sie möglicherweise Ausdruck von Neid, mangelndem Problembewusstsein oder schlicht von Dummheit sind. Bis das eintrifft, was ich in der vorherigen Antwort beschrieben habe, sind wie auch immer gestaltete Förderungen wichtig und richtig.
Workshops für Musikerinnen sind nötig, um role models und Beispiele zur Entwicklung einer starken eigenen künstlerischen Persönlichkeit zu etablieren. Es gibt ja die unterschiedlichsten Wege, künstlerische Integrität auszubilden, wofür es unzählige biographische Beispiele gibt.

Wir kennen Dich als Energie- und Powerbündel, die vor Einfällen, Ideen, Ulk und Witz sprüht, die beim Unterrichten und bei Auftritten immer 100%ig präsent ist, jeden Morgen mit einer Joggingrunde beginnt – gibt Dir die Musik die Kraft für das Ganze?

Ja klar, Musik und Schlaf (chronisch zu wenig) und ordentliches Essen, hahaha!

Wir wünschen Dir weiterhin viel Erfolg und viele spannende Projekte!
Danke!

CD-Release-Tour „quite simply“ mit dem „Angelika Niescier New York-Trio“
Angelika Niescier, saxes
Gene Jackson (u.a. Dave Holland), drums
Chris Tordini, bass

27.10 – Konstanz, Jazzherbst
28.10 – Düsseldorf, Jazzschmiede, 20.30 Uhr, Himmelgeisterstrasse 107 g
29.10 – Dortmund, Domicil, 20.30
30.10 – Krefeld, Jazzclub, 20.30 Uhr, Lohstrasse 92
31.10 – Köln, Stadtgarten, 20.30 Uhr Venloer Straße 40
02.11 – München, Unterfahrt, enja- Jubiläumskonzert:, 21 Uhr, Einsteinstrasse 42
04.11- Workshop und Konzert, Hochschule Osnabrück
05.11 – Villingen, Jazzclub, 21 Uhr, Webergasse 5

links:
www.angelika-niescier.de
Echo Jazz 2010: www.youtube.com/watch?v=dOuG21vGzuM
Niescier-Sorey live: www.youtube.com/watch?v=Lt-KkWoPfc0
www.myspace.com/angelikaniescier

Autorin: Hildegard Bernasconi

24.10.2011