„18 trifft 68“: Cillie Rentmeister & Laura Winkler
Musikerinnen sprechen über die 68er
CILLIE (CÄCILIA) RENTMEISTER…
ist Kunsthistorikerin, Hochschullehrerin, Prof. Dr. phil., geb. 1948 in West-Berlin. 1974 war sie Mitgründerin der Flying Lesbians, der ersten rein weiblichen Rockband Deutschlands, die sich nicht als konventionelle Rockband nach dem Vorbild der männlichen Kollegen verstand, sondern als Sprachrohr der Frauenbewegung. Sie spielten zwischen 1974 und 1977 vornehmlich auf Frauenfesten und verstanden Musik als soziales Event, eine Erfahrung von Solidarität, Schwesterlichkeit und Liebe unter Frauen. Ab 1973 war Cillie aktiv im Frauenzentrum West-Berlin, einem Ausgangspunkt der Zweiten Frauenbewegung, außerdem Mitbegründerin der feministischen Kunst- und Kulturwissenschaft und der ersten Sommeruniversität für Frauen in Berlin 1976. Ab 1977 begann sie mit der Hochschullehre und unternahm Forschungsreisen in moderne Matriarchate. Von 1994 bis 2014 war sie als Professorin an der FH Erfurt über Geschlechterverhältnisse im Kulturvergleich sowie Interaktive Medien tätig. Seit 1973 ist sie begeisterte Fliegerin und Mitglied in Pilotinnen-Netzwerken.
LAURA WINKLER…
wurde 1988 in Graz geboren. Die Sängerin und Komponistin studierte Jazzgesang und InstrumentalGesangsPädagogik an der Kunstuniversität Graz sowie Komposition an der UDK Berlin. Seit 2011 lebt sie in Berlin, gründete hier die Folk-Pop-Band Holler my Dear, die sich seitdem mit kluger Tanzmucke in die Herzen des (Jazz-)Festivalpublikums gespielt und drei Alben aufgenommen hat. Als Hauptkomponistin und Texterin der Band verbreitet sie gut gelaunten Mut zum Widerstand und fröhlichen Aus-der-Reihe-tanzen. Mit ihrem 12köpfigen Wabi-Sabi Orchestra frönt sie der „Schönheit im Fehler“. Laura ist außerdem Teil des Berliner MusikerInnen-Kollektivs KIM, komponiert für Projekte im zeitgenössischen Tanz sowie für Orchester, Big Bands und zeitgenössische kammermusikalische Ensembles und wirkt als Sängerin in verschiedenen Berliner Formationen mit. Außerdem arbeitet sie als Gesangslehrerin und Bandcoach für Jazz/Pop an der Musikschule Berlin Reinickendorf.
Das Konzept sah vor, dass beide Interviewpartnerinnen dieselben 8 Fragen beantworten und uns zurücksenden. Wir haben die Antworten der jeweiligen Partnerin gemailt, damit sie von ihr kommentiert werden kann, sodass am Ende – wie Ihr gleich sehen könnt, ein ungemein fruchtbarer Austausch entstand.
Habt Ihr einen persönlichen Bezug zu der Zeit der 68er?
Laura: Abgesehen davon, dass ich in der Musikszene immer wieder Alt-68erInnen treffe, gibt es auch jenen persönlichen Bezug, als dass meine beiden Onkel die ersten Hippies im Dorf waren – mit skandalös-langen Haaren, Lammfellmänteln und VW-Bus. Die beiden leb(t)en ein freies Leben und spielten in einer Band namens „Kettenhund“, deren Platte ich mir viele Jahre später angehört hab.
Cillie: Ich machte im März 1968 in West-Berlin Abitur. In dem Augenblick war die kurze, heftige Blüte der `68 schon vorüber! Das heißt, ich begann im Sommersemester ’68 mein Studium von Kunstgeschichte, Archäologie und Amerikanistik, als an der FU Berlin die hohe Zeit, die heiße Phase der Studentenbewegung abgekühlt war, und die 68er Studenten sich in überwiegend dogmatische Gruppen aufspalteten. Natürlich wehte uns auch frischer rebellischer Wind bis ins Gymnasium hinein. Ich las aber weniger Marx und Mao, was einige Klassenkameraden durchaus taten, sondern entdeckte z.B. in einem Buchladen Valerie Solanas‚ „SCUM Manifesto – Society for Cutting Up Men“. So verbesserte ich mein Schul-Englisch durch solch frühe, ziemlich radikal-feministische, sarkastische Lektüre… Davon ist bestimmt was hängengeblieben :-))
Das intellektuelle Sich-Gebärden der männlichen Studentenführer, ihr auftrumpfender Sprachduktus waren mir ohnehin fremd, fand ich überwältigend im negativen Sinn, egomanisch, stießen mich eigentlich ab, – ähnlich, wie das aggressive Macker-Gebaren auf den Kudamm-Demos. Von den wenigen Frauen in der Studentenbewegung traf ich einige dann erst in der Frauenzentrumsbewegung ab 1973, im Westberliner ersten, autonomen Frauenzentrum in der Hornstraße – Ingrid Schmidt-Harzbach etwa, oder auch Sigrid Fronius, 1968 als erste Frau zur Asta-Vorsitzenden gewählt. Sie waren nur zwischen fünf bis zehn Jahre älter als ich, aber damals machte das quasi einen Generationenunterschied aus. So blieben wir Frauenzentrumsfrauen für Helke Sander und ihre „Brot und Rosen“-Gruppe trotz gemeinsamer Ziele, glaube ich, immer die „jungen“ Frauen. Und tatsächlich, wir setzen uns milieumäßig auch anders zusammen und tickten dadurch anders: Nicht mehr nur Studentinnen, sondern junge Frauen, die gerade erst auf dem neu eröffneten „zweiten Bildungsweg“ Abitur, aber zuvor schon in der Berufswelt reichhaltige Lebenserfahrungen gemacht hatten, und teilweise ein Studium nun draufsattelten.
Daraus speiste sich auch unsere praktische Projekt-Orientierung: Notrufe, Frauenhäuser, Frauengesundheitszentren, Buchläden, Frauensommerunis… alles jahrelang ehrenamtlich; auch die Miete für die Frauenzentren sammelten wir unter uns – oder spielten sie durch Frauenfeste ein :-)) Und gleichzeitig trieb uns alle der Bildungshunger, der Hunger nach Frauengeschichte, nach Kunst und Kultur, experimentellen Formen des Zusammenlebens und -Liebens, das Bedürfnis nach internationalem Austausch, nach „Sisterhood“. Ich habe den Eindruck, dass in den letzten ein, zwei Jahrzehnten nun, befördert vor allem von den Unis und den politischen Stiftungen, ein akademischer Gender-Feminismus Konjunktur hat, – trotz aller Diversitätsbeschwörungen doch seltsam selbstbezogen, der tiefgreifende und gefährliche Veränderungen in der Welt ausblendet. Hieran ändert sich aber gerade etwas, (selbst-)kritische Stimmen werden zunehmend hörbar.
Laura: Wahnsinn, was für eine inspirierende Biographie, ich bin regelrecht baff! Spannend, über deine Erfahrungen aus der Zeit der Frauenzentrumsbewegung zu lesen. Ich hab mir auch das Buch deiner Lebensgefährtin Cristina Perincioli „Berlin wird feministisch – Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb“ gekauft, um noch mehr über diese aufregende Zeit zu erfahren. Heut morgen las ich darin die berühmte Rede von Helke Sanders und das Kapitel über „Brot und Rosen“. Ich bin von Bewunderung und Dankbarkeit erfüllt, wenn ich lese was ihr Frauen (aller Generationen ;-)) damals bewirkt habt, und damit den Weg geebnet habt für Frauen wie mich, die heute viel freier leben können, so wie wir es wollen. Ich erlebe den Feminismus heute sehr breit gestreut: in politischen Initiativen, in theoretischer Auseinandersetzung, im alltäglichen Diskurs, in der Popkultur angekommen (neben inhaltsschwächeren Modeerscheinungen auch in sehr kluger Form wie z.B. im wunderbaren Magazin „Missy“) und mit individueller Selbstverständlichkeit gelebt von Frauen und Männern – wobei mein Umfeld als eine in Berlin lebende, queere Künstlerin wohl auch eine gewisse Blase ist. Solche von dir beschriebenen Strukturen sind mir in meiner Blase in dieser Art nicht bekannt, aber ich hab das Gefühl – gerade in letzter Zeit – dass sich was tut, dass da was in der Luft ist, und der von dir beschriebene Hunger nach Sisterhood, Austausch und Struktur mehr denn je besteht, gerade weil sich unsere Welt so tiefgreifend verändert und regressive Strömungen überhand nehmen. Da muss man dagegen halten.
In letzter Zeit wurde ich oft für Frauenprojekte angefragt, zu feministischen Themen interviewt, gerade sitze ich an einem Antrag für eine Künstlerinnenförderung und entwerfe ein neues feministisches Bandprojekt. Bei einer entbrannten Diskussion auf Facebook nach dem Posten meines Interviews mit der „WIENERIN“ zum Thema Frauenmangel im Jazz und dem zeitgleichen Aufkommen der Petition der UDJ (Union Deutscher JazzmusikerInnen) für die Gleichstellung von Frauen im Jazz, hat ein*e Kolleg*in angeregt, ein feministisches Jazz-Kollektiv zu gründen. Obwohl ich mich gar nicht in erster Linie als reine Jazz-Künstlerin empfinde, sehe ich aber nach deinen Schilderungen die absolute Notwendigkeit jeder einzelnen Initiative als Baustein einer großen feministischen Bewegung.
Was bedeuten die 68er für Euch? Was verbindet Ihr damit?
Cillie: Die 68er bildeten einen wichtigen Kondensationskern gesellschaftlicher Veränderung – in weiten Teilen auch als Befreiung von Konventionen. Sie haben Sprache, Alltagsleben und Verhaltensweisen verändert, aber auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften unterschlagene Dimensionen eröffnet: Mein Fachgebiet Kunstgeschichte beispielsweise um die bereichernde Dimension der „Sozialgeschichte der Kunst“. Diese Dimension kam allerdings nicht aus dem Nichts, sondern wurde von Arnold Hauser bereits zu Beginn der – viel zu oft unterschätzten – 50er Jahre entwickelt! Damals eine Außenseiterposition – fünfzehn Jahre später erst durch den Geist der 68er wiederentdeckt und gewürdigt, und für uns eine Offenbarung. Die Frauenbewegung brachte dann die nächste, mindestens ebenso wichtige Dimension ein, in meinem Fall hieß das: Kunstgeschichte und Archäologie um die fehlende weibliche Hälfte zu ergänzen, also die Geschlechterperspektive zu eröffnen. Diese Entdeckerinnenzeit brachte für mich und andere die nächsten Offenbarungen!
Laura: Progressives gesellschaftliches Denken, Freie Liebe. Ich hab in letzter Zeit viel über die zweite feministische Bewegung und „den Urknall feministischen Erwachens“ (TAZ) durch die revolutionäre Tomate von 1968 gelesen und was das alles ins Rollen gebracht hat, an Aktionen und an feministischem Selbstbewusstsein. Mir war gar nicht so klar, dass das so eng verknüpft mit der Zeit war – warum erfährt man davon nichts im Geschichtsunterricht in der Schule? Das nennt man wohl fehlende Geschichtsschreibung. Das Digitale Deutsche Frauenarchiv war also auch insofern wirklich überfällig.
Cillie: Ja, die Geschichtsschreibung – ein wichtiger Punkt! Es gibt sie, aber man erfährt zu wenig darüber: Ich nenne als Beispiel mal „Berlin wird feministisch. Das Beste, was von der 68er Bewegung blieb“ von Cristina Perincioli. In dem Buch berichten sie und 28 Mitstreiterinnen über den West-Berliner Urknall – über die Gründung und die ersten Jahre der Autonomen Frauenzentrumsbewegung ab 1973, und die Lesbenbewegung sogar noch früher, ab 1972. Ich plädiere auch immer wieder dafür, nach US-Vorbild auch in Deutschland einen „Women’s History Month“ einzuführen, alljährlich im März: In Schulen, Hochschulen, Wirtschaft und Organisationen erinnert man in den USA in diesem Monat an historische und aktuelle Leistungen von Frauen; weibliche „Role Models“ treten auf, und es wird überlegt, wie sich Selbstvertrauen von Frauen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen weiter befördern lassen, zum Wohlergehen aller.
Inwieweit wirkt diese Zeit auf Euer Leben heute?
Cillie: Heute rücken mir neben den bleibenden, befreienden, verdienstvollen Seiten auch negative Seiten des 68er Menschenbilds ins Bewusstsein: Laissez-Faire, oder ich nenne als Beispiel einmal die naive Ablehnung von Grenzen jeder Art… obwohl wir doch selber als Individuen das ganze Leben lang eigene Interessen erkennen, benennen und Grenzen setzen müssen, um nicht überwältigt zu werden, – sei es im Beruf, oder im Privatleben. Gerade Frauen und Mädchen! In der Beziehung, als Mütter… Als das Thema „sexueller Missbrauch“ Mitte der achtziger Jahre endlich von der Frauenbewegung aufgebracht wurde, war ich Mitveranstalterin einer „Wildwasser“-Fachtagung in Berlin. Mein Tagungsbeitrag hieß „Grenzen setzen! Zehn Thesen zum sexuellen Missbrauch aus kulturanthropologischer Sicht“… Ich betrachte beispielsweise das Thema „Grenzen“ gerne aus dieser Sicht, sozialfunktionalistisch, wenn frau so will: „Good fences make good neighbors“ – und stabile, gelingende mitmenschliche und mitbürgerliche Beziehungen.
Laura: Schon unglaublich wie langwierig solche Themen sind, dass die Gesellschaft so lange braucht. Dein Tagungsbeitrag zum Thema „Grenzen setzen!“ aus den Achtzigern scheint mir mitten in der #metoo Debatte brandaktuell. Aktuelle Fälle wie der der österreichischen Politikerin Sigrid Maurer, die sich gegen Online-Sexismus gewehrt hat, und nun selbst wegen übler Nachrede angeklagt wurde, zeigen, dass gezogene Grenzen immer noch nicht akzeptiert werden. Hass gegen Frauen im Internet bringt da eine neue Dimension, die viele Frauen (be)trifft, auf die endlich angemessen reagiert werden muss, vor allem von rechtlicher Seite.
Die feministische Bewegung ist die längste andauernde politische Bewegung in Europa – mit vielen Errungenschaften, aber nach wie vor aktiv, hinterfragend, kämpferisch und enorm wichtig für unsere Gesellschaft. Ich bin Feministin und stark an diesem Diskurs interessiert.
Cillie: Ein Beispiel für aktuellen, „leibhaftigen“ Diskurs: In diesem Oktober 2018 haben wir in Berlin eine Live-Debatte zwischen der radikal-lesbischen und der queeren Generation begonnen: „Das Generationending: Radikale Lesben treffen Sternchen*Lesben“ (im Rahmen der Ausstellung „Lesbisch – radikal – feministisch. 50 Jahre Lesbisches Aktionszentrum West Berlin“ im Schwulen Museum). Es stellte sich heraus, dass Kontroversen nicht nur zwischen, sondern ebenso innerhalb der Generationen verlaufen, beispielsweise zum „intersektionalen Feminismus“, und der Rolle von „Trans“. Endlich mal ins direkte Gespräch gekommen zu sein, sich gegenseitig Fragen gestellt und zugehört zu haben, wurde als so anregend empfunden, dass der Austausch im November in der „Begine“ in die zweite Runde geht.
Damals spielte die Musik eine große Rolle und lieferte den Soundtrack für eine politische Bewegung. Ist für Euch heute Musik auch ein Mittel des Protests? Wovon handelt z.B. Eure Musik?
Laura: In Zeiten des politischen Rechtsrucks und einer Atmosphäre, in der Ängste bewusst geschürt werden und die Errungenschaften der Zivilgesellschaft zu bröckeln scheinen, war es für meine Band Holler my Dear (Foto) ganz klar, dass wir ein politisches Album schreiben wollten. Darauf befinden sich klassische Protestlieder (z.B. gegen die Panikmacherei oder regressive Tendenzen), Hymnen an die Diversität, Pluralität, Offenheit, Menschlichkeit und Solidarität, aber auch ruhigere, verletzliche Lieder, die versuchen zu zeigen, was dieser Wahnsinn mit einem macht. Man ist nicht jeden Tag gleich stark, um sich dem entgegen zu stellen. Wir haben versucht, der ganzen Palette Raum zu geben, mit einem positiven Grundtenor. Die Platte soll Mut und Bewegung signalisieren, sinnbildlich dafür steht der Titel „Steady as She Goes“: dieser ursprünglich aus der Seemannssprache kommende Begriff (Das Schiff auf Kurs halten) meint nicht geradlinige Stabilität, sondern das Stetige im Unsteten –Veränderung als Prinzip. Natürlich hab ich mir beim Schreiben Gedanken zur Haltbarkeit eines aktuell motivierten Albums gemacht, nur um dann zwei Jahre später festzustellen, dass die Themen nach wie vor aktuell sind. Die Rolle der Kunst in politisch angeheizten Zeiten ist wichtiger denn je.
Cillie: „Steady as she goes“ finde ich einen richtig guten Titel! Im Video fliegt ja auch so einiges herum. Aber wieso können Lieder „verletzlich“ sein? Kannst Du mir vielleicht mal bei einem Bier erklären…
Wir haben mit unserer Frauenrockmusik einfach Situationen beschrieben, ernst, gefühlvoll, aggressiv oder oft ironisch. Bei den „Flying Lesbians“ und „LesBeTon“ griffen wir ab Mitte der 70er Jahre all die Themen auf, die uns Frauen und Lesben gerade bewegten: Bisexualität, Arbeitslosigkeit, Machtmissbrauch durch Frauen, Matriarchatssehnsucht, Zusammengehörigkeit unter Frauen, Liebe… In meinen Soloproduktionen mit rein elektronischer Musik (Single „EMP“- Elektromagnetischer Puls) in den frühen 80ern ging es dann ironisch ums Waldsterben – und ziemlich ernst um verborgene Raketenstationierungen; und in dem Song „Welt No. 11“ fürs NDR Fernsehen um die Apokalypse des Überbevölkerung, des exponentiellen Bevölkerungswachstums. Ein Epochenthema, das mich seit 1972 bewegt, als der Club of Rome in seinem Bestseller „Die Grenzen des Wachstums“ dies vielleicht größte Nachhaltigkeits-Problem schonungslos beschrieb. Seit vielen Jahren mache ich aber keine Musik mehr, sondern lausche entzückt dem Sound und Rhythmus von Flugzeug-Motoren… (siehe Frage 8).
Laura: Und ich lausche entzückt euren alten Hits, die man erfreulicherweise auf Youtube nachhören kann! Kennst du die Wiener queer feministische Band Schapka? Da besteht eine gewisse Geistesverwandtschaft… „Patriarchat ist fad!“ Auch wenn mein Zugang durch mein Musikstudium ein anderer ist, kann ich mich voll für die „Flying Lesbians“ begeistern, vor allem wegen des Humors, der Direktheit und der Themen – bei letzterem entdecke ich auch manche Parallelen. Vielleicht kann ich ja mal einen Song von euch covern?
Wenn Ihr Euch die Formen des Protests heute und damals anschaut: was glaubt Ihr, hat sich geändert? Drückt sich Protest heute anders aus?
Cillie: Es ist die digitale Dimension hinzugekommen, mit Social Media und dem „One-Click-Only“ Petitions-Aktivismus, der ja durchaus auch beeindruckt und wirksam sein kann. Die digitale Kommunikation erleichtert rasche Reaktionen. Eigentlich erstaunlich, wie wir in den 70er Jahren mit Telefonketten, Wachsmatrizen, Kopierern und schrottreifen Autos so viel in Bewegung setzen konnten.
Laura: Ja, wirklich erstaunlich! Durch das Internet hat sich wahnsinnig viel verändert: Austausch und Vernetzungen gehen viel schneller, direkter und manchmal auch viral, wie man paradebeispielhaft bei den Protestbewegungen des Arabischen Frühlings oder bei der #metoo Bewegung sehen konnte. Die digitale Kommunikation ermöglicht mir persönlich auch ein weit gespanntes Netzwerk, den Austausch darin suche ich bei politischen Themen, und die Solidarität darin gibt mir Kraft. Andererseits besteht die Gefahr, sich zu sehr in seiner Online-Echokammer einzulullen, oder es bei einer Facebook-Empörung zu belassen, anstatt auf eine Demo zu gehen oder anders im echten Leben aktiv zu werden.
Cillie: Schön, dass Du #metoo erwähnst – diese mutigen Frauen haben es geschafft, Bewusstsein, anhaltenden Gesprächsstoff und Aktionen zu generieren. Der Gärtner spricht darüber ebenso wie die Försterin, die Managerin, die Busfahrerin… Seit #metoo machen sich alle Gedanken: Auch vielen Freundinnen von mir fallen tief im Gedächtnis versenkte, selbst erlebte Szenen wieder ein, – mir auch. Ich arbeite in etlichen Organisationen, Institutionen und Vereinigungen außerhalb der „Echokammer“ mit, und überall landet man irgendwann mal beim #metoo-Thema. Dabei sind die prominenten Zeuginnen und Zeugen wichtig, denn sie zeigen die „intersektionale“ Breite des Phänomens: Übergriffig werden Männer jeder Nation, Rangstufe, Hautfarbe, Religion und sexuellen Orientierung. Der Begriff „Patriarchat“ kommt endlich wieder auf die Tagesordnung. Mir gefällt, dass der Grundtenor von #metoo nicht Anklage ist, sondern Solidarität – auch von Männern -, Ermutigung, und Verlangen nach Frauen-Freiheit. Jetzt gibt es in vielen Ländern der Welt eine neue Zeitrechnung – vor und nach #metoo.
Es wird ja oft gesagt, die Jugend von heute wäre unpolitisch, findet Ihr das auch?
Laura: Ich halte nicht viel von solchen pauschalen Aussagen. Vielleicht sieht das „politisch Sein“ nur anders aus als 1968. Protest ist auch nicht die einzige politische Ausdrucksweise und unsere Gesellschaft ist auch nicht vergleichbar mit der von 1968.
Cillie: Darauf kann ich leider nicht qualifiziert antworten. Welche „Jugend“ soll ich mir vorstellen, aus welchem Milieu? Ich finde allerdings bedenklich, dass eine Generation herangewachsen ist, die politisch nichts als eine „Große Koalition“ kennt – die doch eigentlich als demokratischer Ausnahmezustand gelten sollte, oder? Ich finde auch manchmal, dass viel zu wenig grundsätzlich-kritisch hinterfragt wird, wo man/frau doch Informationen aus jeder Richtung zusammentragen und vergleichen kann, – und ruhig und ohne sich von irgendjemand ein schlechtes Gewissen machen zu lassen, sich des eigenen Verstandes bedienen sollte. So erlebe ich auch den – z.B. künstlerischen oder studentischen – Protest selber als oft angepassten, politischen Mainstream, und die Leute merken es nicht mal oder es stört sie nicht. Aber das gilt für Jugendliche ebenso wie für Erwachsene heute.
Laura: Das sehe ich ganz ähnlich! Kennst du die „Hysteria“ aus Wien? Ein feministischer Gegenentwurf zu den Burschenschaften Wiens, weit mehr als ein humoriges Kunstprojekt. Das verbreitet sich gerade über Wien hinaus – wollen wir so etwas – Generationen übergreifend – in Berlin gründen? Wir „jungen“ Frauen könnten viel von dir lernen…
Denkt Ihr, die Studentenbewegung von 68 hat viel erreicht und etwas verändert?
Laura: Auf jeden Fall. Für meine Generation sind die Errungenschaften gar so selbstverständlich, dass man diese oft erst bewusst merkt, wenn konservative, regressive Bewegungen daran rütteln.
Cillie: Zu Deiner Feststellung fallen mir viele Beispiele ein, hier nur eines: Dass in Deutschland eine islamistische, fundamentalistische Organisation – die Moschee-Betreiberin DITIB, die in letzter Instanz dem türkischen Ministerpräsidenten untersteht, an Errungenschaften rüttelt, und gleichzeitig ein Hauptgesprächspartner deutscher PolitikerInnen ist, sogar noch mit deutschen Steuermitteln gefördert wird. Kritische und aufklärerische Migrantinnen hingegen, die für Frauenrechte eintreten, sind leider viel weniger einflussreich – wie beispielsweise die Soziologin Necla Kelek.
Was sind Eure wichtigsten Ziele, die Ihr verfolgt?
Laura: Offenheit, Diversität, Ausbau feministischer Strukturen.
Cillie: Auch jetzt als Siebzigjährige möchte ich mich nicht vom Pessimismus zu stark beeinträchtigen lassen, vor allem mit Blick aufs Wachstum der Weltbevölkerung in den ärmsten Ländern, und wo doch jetzt die unausweichlich negativen Folgen, als Umweltkrisen und Migrationsdruck vom Club of Rome vorhergesagt, noch auf dem hinterletzten deutschen Dorf erfahrbare Realität werden. Zum Thema „Bevölkerungswachstum als patriarchales Prinzip“ (und dem entgegen Nachwuchsbegrenzung und Wohlstand als Effekt von gleichberechtigter Position der Frauen – siehe das geschichtliche Beispiel von Deutschland) hatte ich schon auf der Frauen-Sommeruni 1980 in Berlin solche Szenarien vorgetragen, und gehofft, dass ich die Folgen nicht selbst erleben müsste :-/)
Ich möchte immer weiter dafür arbeiten, dass die Erkenntnis sich endlich durchsetzt, dass Gleichberechtigung, Bildung, reproduktive Rechte und Besitz- und Erwerbsmöglichkeiten für Frauen und Mädchen den einzigen Weg aus den Teufelskreisen bieten, weltweit: „Entwicklung ist weiblich!“. Obwohl, und da werde ich wieder pessimistisch, dies alles viel zu langsam abläuft und zu viele Gegenschläge erfolgen. Diese Erkenntnisse fließen jedenfalls auch weiterhin in mein kommunal- und geschlechterpolitisches Engagement ein; also beispielsweise während fünf kontroversenreichen Jahren als (parteilose) Frauenrätin der Böll-Stiftung, und drei Jahren als Mitwirkende am Leitbild meiner Gemeinde Michendorf bei Berlin.
Meine Leidenschaft, die Fliegerei, lässt mich vom Himmel aus die Erde betrachten und vieles relativieren, mich selbst eingeschlossen – und gleichzeitig möchte ich doch glücklich wieder auf ihr landen, möchte den Austausch in Pilotinnen- und anderen Netzwerken, in alten und neuen (!) Freundschaften, und vor allem den nun schon im fünften Jahrzehnt inspirierenden Austausch mit meiner Lebensgefährtin Cristina Perincioli genießen. Ganz egoistisch! Jetzt noch mein Wahlspruch: Always be five miles ahead of your airplane…!
Laura: Danke für den Einblick in dein inspirierendes, reichhaltiges Leben, Cillie! Entwicklung ist weiblich!
(Titelbild: Cristina Perincioli)
Infos zur Veranstaltung in Frankfurt findet ihr hier.
16.10.2018