Die Feldaufnahmen webt sie mit Stimme, elektronischen Klängen und Saxofon in vielschichtige Klangräume ein, die mal urbane Sounds, mal ländliche oder die Geräusche der Natur einfangen. Da sind die Klänge auf Reisen zu hören, aber auch die „Musik“ der Natur wie Meeresbrandung, Sturm und schmelzender Schnee bis hin zu Industrial Sounds von Flugzeugen und Wärmepumpen. „Eco Acoustics meets Jazz“ nennt sie diese Musik. Es ist eine Liebeserklärung an Island – und ein klares Commitment für den Schutz unserer Umwelt.

Foto: Marianne B.G. Ous

Kannst Du ein bisschen was zu Deinem Werdegang erzählen? Bist Du in einer musikalischen Familie aufgewachsen? Wie waren Deine Anfänge in der Musik? War Saxofon Dein erstes Instrument?

Ich bin in einer musikbegeisterten Arbeiterfamilie nördlich der Wintersportstadt Lillehammer aufgewachsen. Wir lebten in der Nähe der Natur, mit vielen Höfen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Als Kind spielte ich viel im Wald und hatte immer ein Lied im Kopf.

In meiner Kindheit lief immer irgendwo im Haus ein Radio, ein Fernseher oder ein Plattenspieler. Schon mit 4 Jahren habe ich Erinnerungen daran, dass ich Sammy Davis im Fernsehen sah und von ihm tief fasziniert war. Im nächsten Moment konnte ich Opern schauen, während irgendwo in einem anderen Raum norwegische Volksmusik aus dem Radio zu hören war. Es war eine riesige Kakophonie von Klängen, und das war meine Realität. Ich konnte stundenlang auf dem Boden vor den Lautsprechern des Plattenspielers liegen und Musik aus allen möglichen Genres hören.

Als ich zur Schule kam, zeigte ich so großes musikalisches Interesse, dass ich bereits in der ersten Klasse in das Schulorchester aufgenommen wurde, was damals sehr früh war. Zuerst erhielt ich Unterricht in Notenlehre und bekam dann eine Bb Kornett zugeteilt. Mit 9 Jahren begann ich Klavierunterricht zu nehmen, und zu dieser Zeit entstanden auch meine ersten Kompositionen. Erst mit 12 Jahren bekam ich ein Saxophon. Ich hatte das Saxophon in verschiedenen Musikrichtungen, insbesondere im Jazz und in schwedischer Tanzmusik, entdeckt, und drei Jahre lang bat ich auf meinen Knien, mit dem Saxophon spielen zu dürfen. Ich wusste, dass es „mein Klang“ war. Als endlich ein Platz für ein Saxophon im Schulorchester frei wurde, erfüllte sich mein Traum, und schon in der ersten Saxophonstunde verstand ich die Prinzipien von Griffen und Tonbildung. Die Entwicklung ging sehr schnell, und nur zwei Monate später wurde ich in ein regionales Orchester aufgenommen. Dort traf ich talentierte junge Leute aus der gesamten Region, wo wir größere musikalische Herausforderungen in einem anspruchsvolleren Repertoire bekamen.

Mit 15 Jahren spielte ich in 4 Orchestern, in einer Bigband, sang im Chor und spielte Klavier. Alles drehte sich um Musik. Niemand in meiner Familie arbeitete als professioneller Musiker, aber die Freude an der Musik, die sie umgab, hatte einen starken Einfluss auf mich, sodass ich das Gefühl hatte, es sei ganz natürlich für mich, eine Musikkarriere einzuschlagen.

Foto: Snøhetta Arkitektkontor

Wie ist die Idee zu der Trilogie entstanden?

Im Sommer 2016 machte ich einen Roadtrip durch den Rondane-Nationalpark zusammen mit einer Freundin. Wir hatten ein Ziel vor Augen: den preisgekrönten Snøhetta-Pavillon am Dovrefjell zu besuchen. Nach einem Spaziergang von etwa 1,5 km kamen wir gegen 22 Uhr an einem Juliabend im Pavillon an. Die Sommernächte werden hier in Norwegen nie dunkel, und wir hatten den Pavillon ganz für uns allein. Dort saßen wir die ganze Nacht, feuerten im Kamin an, während wir den Geräuschen von Wetter und Wind lauschten und die massive Berglandschaft betrachteten, die sich im Einklang mit dem ständig wechselnden Licht veränderte. Ich wurde von einer tiefen Stille und Ruhe erfüllt, und die Vision, dieses Erlebnis in Musik umzusetzen, entstand.

Foto: Snøhetta Arkitektkontor

Im Jahr 2015 besuchte ich Island zum ersten Mal und reiste die gesamte Südküste entlang, von Snæfellsnes im Westen bis Höfn im Osten. Die Natur war spektakulär, und ich war völlig hypnotisiert von dem, was ich sah und erlebte. Davor war ich viel in den norwegischen Bergen gewandert und als Musikerin viel in Norwegen gereist und aufgetreten. Die arktische Natur weckt etwas in mir.

Hast Du schon vorher mit Field Recordings gearbeitet?

Bevor die Vision von Snøhetta 2016 entstand, hatte ich mich nicht ernsthaft mit Field Recordings beschäftigt. Ich kannte das Phänomen und hatte einige einfache Versuche unternommen, aber ich ging ernsthaft an die Sache heran, als ich mit der Arbeit an dem ersten Sonic Experience-Album begann, das 2022 veröffentlicht wurde. Dies basierte auf Feldaufnahmen aus dem Snøhetta-Gebiet, von dem ich zuvor erzählt habe.

Wie bist Du vorgegangen, wie war Deine Arbeitsweise?

Video & Sound in Austurland

Zuerst ist die „Feldarbeit“. Nach draußen in die Natur oder die relevanten Umgebungen zu gehen, um Tonaufnahmen von allem zu machen, was mein Interesse weckt. Ich arbeite sehr intuitiv und plane selten. Manchmal kann ich zurückkehren, um an bestimmten Klangquellen weiterzuarbeiten, die sich später als besonders interessant und wichtig für mich erweisen können. Alle Feldaufnahmen werden mit der Art des Klangs gekennzeichnet und in Ordnern mit Datum, Situation oder Ort abgelegt. Von dort aus beginnt die Arbeit im Studio und ein mühsamer Prozess, die Klangsequenzen zu finden, die ich für besonders interessant halte. Einige Klänge werden transformiert, andere bleiben völlig authentisch. Allmählich fügen sich die Klangbilder zusammen, und dann suche ich nach Tonalität und Rhythmus oder ob es mehr eine Collage von Klängen ist, die nichts Tonales in sich trägt, wie z.B. „Busdrivers Wait“.

Improvisation als Methode ist zusammen mit dem Willen und der Ausdauer, den Prozess offen zu halten, bis das innewohnende Potenzial der Klänge klar wird, völlig essenziell. Nach und nach entsteht der Titel, der den sonischen Zustand widerspiegelt, den ich versuche wiederzugeben, ohne zu starke Vorgaben zu machen. Der Hörer darf gerne seine eigenen Assoziationen bilden.

Auf „5PM“ ergeben das Geräusch eines wartenden Buses, der Blinker, Kirchenglocken, Saxofon, Straßengeräusche, Stimmen und mehr eine Komposition. Überhaupt spitzt man regelrecht die Ohren, um herauszufinden, um welche Geräusche und Situationen es sich handelt. Fügst Du diese Komponenten intuitiv zusammen und improvisierst darauf oder ist alles ausnotiert? Wie muss ich mir das vorstellen?

„5 PM“ handelt davon, sich darauf gefreut zu haben, nach Reykjavik hinauszugehen und die Menschen dort zu treffen, nach einem langen Reisetag. Aber was mich erwartet, ist das Gefühl, zu spät zum Tag gekommen zu sein. Ich bin voller Erwartung, während die Bevölkerung müde ist und nach einem langen Arbeitstag nach Hause möchte. 17 Uhr, bald wird es Abend, und wir hören Geräusche von einem Zebrastreifen, wo die Ampel beim grünen Licht tickt, und die akustische Schilderung aller, die auf dem Weg nach Hause sind: Fußgänger, im Auto oder Bus, und die Kirchenglocken, die mit ihren fünf Schlägen den Arbeitstag „versiegeln“ und gleichzeitig eine neue Tageszeit eröffnen.

Im Allgemeinen ist meine Ambition, ein Gefühl, eine Stimmung oder einen Zustand nachzubilden, den ich erfahre oder erlebe. Nichts ist niedergeschrieben oder geplant, sondern es geht mehr um eine Präsenz in der Situation, in der ich mich befinde. Ich mache Aufnahmen von dem, was intuitiv mein Interesse weckt, und der gesamte Prozess ist offen und ohne Planung, auch in dieser Phase. Ich bin aufmerksam gegenüber meinen eigenen Gefühlen, Erlebnissen und Reflexionen, die ich in einem Tagebuch festhalte. Parallel dazu mache ich Videoaufnahmen aus denselben Situationen oder gehe später zurück, um zu filmen. So bekomme ich nicht nur Bilder, sondern auch den Sound der Videoaufnahmen, den ich ebenfalls in den Kompositionen verwenden kann. Auf YouTube habe ich einige Etüden, in denen die Musik ausschließlich aus Real-Sound von Videoaufnahmen komponiert ist.

 

Wenn ich später an den Kompositionen arbeite, gehe ich immer in den Improvisationsmodus und öffne mich für die Eingebungen und unmittelbaren Ideen, die zu mir kommen. Es ist eine langsame Arbeit mit großer Experimentierfreudigkeit, Prozessierung, reiner Authentizität oder vollständiger Transformation. Was ich auf dem Saxophon oder mit der Stimme tue, weiß ich nicht, bevor ich ein akustisches Fundament oder eine Grundform etabliert habe, in der ich die Konturen der Geschichten sehe, die erzählt werden wollen. Es ist wichtig, mit der Klanglandschaft zu spielen, wie in einer Symbiose. Ich merke schnell, wenn ich übertrieben spiele und dem Saxophon oder der Stimme eine solistische Rolle gebe. Dann funktioniert es nicht, und ich muss von vorne beginnen.

Als Hörer bist du frei in deiner Assoziation und dem, was du erlebst. Vielleicht hörst du etwas, das nicht da ist, weil du aus deinen Vorlieben deine persönliche Hörerfahrung schaffst. Das Wichtigste für mich ist, dass die Musik Raum für Nachdenklichkeit und Reflexion auch beim Hörer schafft, gerne mit dem Titel als Hinweis. Dort entstehen oft viele interessante Gespräche.

Du schreibst in Deinem Booklet, dass Du in der „Musik“ der Natur nach Tonalität, Strukturen und Texturen suchst, die eine Basis für eine musikalische Komposition bilden können. Welche Erfahrungen und Erkenntnisse hattest Du dabei?

Blick aus ihrem Studio

Ich habe ein intuitives Verständnis dafür, dass ich in Symbiose mit den Klängen der Natur sein muss. Auf dem ersten Album der Trilogie von 2022 habe ich lange gebraucht, um meine Rolle als Saxophonistin im Zusammenspiel mit der Naturmusik neu zu definieren. Dabei konnte ich nicht die gewohnte Rolle der improvisierenden Jazzsaxophonistin einnehmen. Ich musste eine andere Spielweise entwickeln, die das Imperfekte und Non-Dogmatische wagt sowie eine Langsamkeit in Vortrag, Raum und Stille. Gleichzeitig wollte ich die Technik in Bezug auf Intonation beibehalten und nicht völlig aus dem temperierten Stimmungssystem abgleiten.

Wenn ich nach Tonalität in den Klängen suche, versetze ich mich in einen „perforierenden Hörmodus“ und öffne mich für die kleinen Frequenzen, die das ansprechen, was ich als Grundton wahrnehme. In den verschiedenen Prozessen kann es leicht sein, zu viel zu wollen, sodass die Klänge ihre Eigenart, ihren Charakter oder ihre Authentizität verlieren. Oft wird hier die Entscheidung getroffen, ob ich weiterhin daran arbeite, die Tonalität im Klang zu verdeutlichen, ob sie verworfen wird oder ein größeres Potenzial als Textur oder Basis in einem rhythmischen Muster hat. Die Möglichkeiten und Entscheidungen sind unendlich. Das Ziel ist, die Balance zwischen Mensch (Musiker) und Natur zu schaffen, die im Zusammenspiel in der Lage ist, ein echtes Gefühl, eine Stimmung oder einen Zustand wiederzugeben.

Du hast Filmmusik studiert. War die Arbeitsweise auf „The Sonic Experience“ ähnlich wie bei der Komposition für Film, auch wenn es zu Deiner Musik keinen Film, nur die Bilder im Kopf gibt?

Ja, ich würde sagen, es handelt sich sehr um dasselbe. Auch wenn ich hier aus immateriellen Bildern und Erinnerungen an Erfahrungen arbeite, liegt die Ähnlichkeit darin, dass ich ein Gefühl oder einen psychologischen Zustand durch die Musik unterstreiche.

Wenn ich später Live-Konzerte spiele, füge ich eigene Video-Visuals hinzu. Diese erstelle ich, nachdem die Musik fertig ist. Dabei verwende ich das Videomaterial, das ich parallel zu den Field-Recordings gefilmt habe.

Die Natur ist eine Deiner Inspirationsquellen und Du engagierst Dich auch für den Schutz der Umwelt und des Klimas. Ist Dein Album also auch ein Statement?

Am Mount Súlur

Ja, das kann man so sagen. Ich möchte die Zuhörer dazu bringen, über ihr eigenes Verhältnis zur Natur und zur Umwelt nachzudenken. Für mich bedeutet die Liebe zur Natur, dass ich mich einen Berg hinaufquälen und nach frischer, klarer Luft schnappen kann oder still im Wald sitze und dem Plätschern eines Baches und dem Rauschen der Baumkronen lausche. Das ist Reichtum für mich, und diesen Reichtum möchte ich bewahren und teilen, indem ich andere dazu inspiriere, dasselbe zu tun. Wenn die Natur verschwindet, weiß ich nur zu gut, dass ich mit ihr sterben werde. Der Kreislauf der Natur ist unser lebensspendender Lebensraum, und wir Menschen müssen aufwachen und uns von der Vorstellung lösen, dass wir die überlegenen und unverwundbaren Bewohner des Planeten Erde sind.

Wann kommt das nächste Album und verrätst Du schon, wo Du Klänge sammelst?

Das dritte Album soll nach Plan im Jahr 2026 erscheinen, und diesmal werde ich die nordische Ureinwohnergemeinschaft, das Samenvolk, aufsuchen. Wie alle indigenen Völker weltweit hat auch das Samenvolk viel Zerstörung durch Behörden, die Kirche und die ‚Gesellschaft‘ erfahren. Altes, ererbtes Wissen und Weisheit über die Natur wurden zum Schweigen gebracht. Sie mussten um den Erhalt ihrer Sprache, Kultur und ihrer schamanistischen Weltanschauung kämpfen, die Naturvölker oft tragen. Glücklicherweise wird Unterdrückung nicht mehr akzeptiert. Dennoch bleiben viele Traumata bei den Sámi als Ergebnis einer vererbten Konditionierung, während die Kinder der Gesellschaft wenig oder gar nichts über die samische Kultur wissen, weil wir nie etwas darüber gelernt haben.

Mit den ersten beiden Alben bin ich in die Stille eingetaucht, um zuzuhören, was die Natur mir erzählen möchte. Auf dem dritten Album möchte ich versuchen, in eine Stille einzudringen und sie zu öffnen, die das Ergebnis der Unterdrückung des Samenvolks durch die Gesellschaft ist. Ureinwohner haben oft einige Antworten auf unsere Herausforderungen im Bereich Klima und Umwelt, wenn wir ihnen erlauben, mit ihrem Wissen und ihrer Weisheit hervorzukommen. Und dann müssen wir zuhören.

CD „The Sonic Experience: Iceland“ (2024)
Erhältlich hier (Reinhören)

Etüden: „Silent Echo“
Musikvideo: „Melting Glacier“ (Album 1)
Infos: www.kristinsevaldsen.com

(Titelfoto: Inki | Ingibjörg Friðriks)

Vol. 1: MELODIVA Lesung & Talk 04.05.2022 frankfurtersalon

Jazzmusikerinnen* und all female Bands waren schon immer da, aber ihre Bedeutung wurde in der Jazzgeschichtsschreibung zu wenig gewürdigt – das ist eines der Statements, mit dem die Jazzmusikerin und Musikwissenschaftlerin Dr. Monika Herzig (Hg.) aus ihrem Beitrag zum kommenden Sammelband „Jazz & Gender“ (Routledge, VÖ: Juni 22) ins Thema einführte. Sie spannte einen Bogen von den frühen all female Bands wie The International Sweethearts of Rhythm, die während des Zweiten Weltkriegs eine Blütezeit erlebten, zur Figur des Alpha Girl im Postfeminismus der 80er und 90er Jahre: Die Frau, die sich gegen Ungerechtigkeit im patriarchalischen System aussprach, wurde als altmodische Männerhasserin dargestellt, was die Macht der Zusammenarbeit von Frauen als Gruppe negierte und so systemerhaltend wirkte. Vorherrschend war die Vorstellung, die Frauen müssten einfach beweisen, dass sie besser sind und es den Männern zeigen; jede Frau würde dann ihren Platz am „Tisch“ bekommen. Erfolgreiche Jazzmusikerinnen wie Tia Fuller, Ingrid Jensen und Terri Lyne Carrington sprachen sich in Interviews von damals noch dagegen aus, das Thema Frau-Sein in der Musik zum Thema zu machen. Heute sind sie längst selbst in Sachen Gendergerechtigkeit aktiv; Carrington gründete 2018 das The Berklee Institute of Jazz and Gender Justice und Ingrid Jensen hat eine eigene all female Supergroup Artemis gegründet.

Hürden bis heute

Tokenism

Zu den Problemen, die bis heute bestehen, gehöre der sogenannte „Tokenism“: eine alibi- und symbolhafte Inklusion von unterrepräsentierten Gruppen, die echte Gleichberechtigung nicht ersetzen kann. Musikerinnen* machen immer noch die Erfahrung, dass es bei Festivals in der Vorstellung der Programmplaner*innen einen weiblichen Slot gibt, um den alle Frauen konkurrieren müssen. So wird der Wettbewerb unter den Musikerinnen* noch verstärkt und Zusammenarbeit und Solidarität werden erschwert. Häufig gibt es eine Supergroup, die auf alle Festivals eingeladen wird, anstatt eine Vielfalt von Bands mit weiblicher* Beteiligung ins Programm einzubinden.

Stereotypen

Eine weitere wichtige Ursache für die Unterrepräsentanz von Frauen im Musikbusiness sieht Herzig in den Stereotypen, die in der Gesellschaft wirken. Dazu führt sie Claude Steeles Whistling Vivaldi: How stereotypes affect us and what we can do (2011) an. Er zeigt, dass sich Leistungen je nach den Erwartungshaltungen ändern. Weibliche Probandinnen, die im Vorfeld eines Mathetests mit der Aussage konfrontiert wurden, dass Frauen nicht gut in Mathe seien, erbrachten schlechtere Leistungen aufgrund dieses negativen Stereotyps. Dieses Phänomen, auch stereotype threat genannt, führt zu Unter- oder Überperformance, nicht zu einer natürlichen Performance.

Instrumentenwahl & „Pubertätsknick“

Ähnlich wie in Deutschland gibt es in den USA laut Herzig eine hohe „Drop Out“-Rate von Mädchen an den Instrumenten: in der Middle School gibt es noch 50% Mädchen in den Bigbands, in der High School nur noch ein Drittel und im College nur sehr wenige. Zwei wichtige Ursachen dafür seien die oft gegenderte Instrumentenwahl (wie z.B. Flöte oder Geige) und die Regelung, dass das Improvisieren in der 7./8. Klasse eingeführt wird, wenn Mädchen sich in der Pubertät stark zurückziehen und eben nicht im Rampenlicht stehen und Risiken eingehen wollen. Bei diesen Chancen, das Solospiel zu üben, versteckten sich die Mädchen eher und hätten dann im Laufe der Jahre das Nachsehen. In dieser Zeit müsste man den Unterricht entsprechend danach ausrichten und z.B. safe spaces wie den „Jazz Girls Day“ anbieten sowie Methoden einbauen, die den Drop Out verhindern. Ein weitere Maßnahme könnte sein, Kinder früher ans Solospiel und die Improvisation heranzuführen, wie es eine Musikerin aus dem Publikum, die Saxofonistin Corinna Danzer empfiehlt. Sie unterrichtet Kinder bereits im Grundschulalter in Improvisation.

Jazz Girls Day in Indiana 2022

In den Staaten sei laut Herzig auch ein Problem, dass alle Jazzbigbands ihre Besten dabei haben wollten, um möglichst viele Trophäen heimzubringen. Das bringe häufig Musiker*innen nach vorn, die sich in den Vordergrund drängten. Eine „Gender In Jazz“-Studie (2019), die über 360 Musiklehrkräfte an Middle und High School Schulen in North Carolina befragte, zeigte zudem, dass Jazzmusikerinnen weniger bemerkenswertes Lob von Pädagog*innen und Kolleg*innen bekamen als ihre männlichen Mitschüler. Eventuell werden sie also weniger gefördert.

Fehlende Role Models

Ein weiteres Thema des Abends war das Fehlen von Role Models, wie es sich überall zeigt. Bis heute gibt es zum Beispiel nur eine Instrumentalprofessorin im Bereich Jazz in Deutschland, in den USA sind die Zahlen nicht viel besser. „Du musst jemanden sehen, der so aussieht wie du, damit du erkennst: ja, ich hab da einen Platz, ich kann das auch machen“, so Herzig. In diesem Kontext übernähmen die all women groups weiterhin vielfältige Funktionen: sie bieten Support und eine Gemeinschaft ohne Druck und wirken gegen gängige Stereotypen (perceptions). Mehr noch: der Anspruch des Jazz als demokratische Kunstform kann eigentlich erst verwirklicht werden, wenn alle am Schaffensprozess beteiligt werden. Herzig zitierte dazu Janiece Jaffes Ausspruch “Equality does not mean sameness” (Gleichberechtigung bedeutet nicht, dass man gleich sein muss): „Ziel des Integrationsprozesses ist ein Kulturwandel, der weg von der Stereotypisierung von Instrumenten und Fähigkeiten geht und den gemeinschaftlichen Aspekt des Musizierens im Jazz statt Männlichkeits- und Konkurrenzdenken kultiviert“.

Was noch zu tun ist…

Von links: Monika Herzig, Johanna Schneider, Nina Hacker, Maria Bätzing (Moderation)

Im anschließenden Talk mit der Frankfurter Jazzbassistin und Instrumentalpädagogin Nina Hacker wurde das Thema Nachwuchsarbeit vertieft. Hacker unterrichtet an der Musikschule Frankfurt und betreut niedrigschwellige Schuljazz- und Bandprojekte wie „Jazz und Improvisierte Musik in die Schule“, die jedes Jahr über 4000 Schüler*innen aktiv mit Jazz in Kontakt bringen. Das Dozent*innen-Team sei gemischt, um Stereotypen vorzubeugen. Der zweite Panelgast, die Sängerin, Komponistin und Gesangspädagogin Johanna Schneider aus Essen, erzählte in diesem Zusammenhang von einer befreundeten Posaunistin, die an einer Musikschule unterrichtet. Jedes Jahr würden beim Tag der Offenen Tür die verschiedenen Instrumente vorgestellt; nur wenn sie als Multiplikatorin die Vorstellung der Posaune übernahm und nicht ein Mann, meldeten sich viele Mädchen für den Posaunenunterricht an. Eine Frau aus dem Publikum erzählte von ihren Beobachtungen in einer Junior’s Bigband in Bayern, die aus 6 Jungen und 4 Mädchen im Alter von 12-15 Jahren bestand: Die Jungs wollten z.B. die Person beim Konzert Solo spielen lassen, deren Solo das beste gewesen sei oder mit einem Neuling gleich das schwerste Stück spielen, um ihn zu testen. Durch die Intervention der Mädchen wurde das unterbunden, die sich anbahnenden Konkurrenzsituationen entschärft. Das zeigt, dass eine gemischte Gruppe als Sozialgefüge ganz anders tickt.

Nina Hacker bietet auch Projekte nur für Mädchen* als safe spaces an. Sie erzählte, dass nur sehr wenige Instrumentalistinnen bei den Schülerjazz-Ensembles mitmachen würden, weil die Musiklehrer*innen eher die Jungs dafür vorschlugen. So hätte sie im letzten Herbst mit ihren Kolleg*innen entschieden, Jazzworkshops für Mädchen* anzubieten, die sehr guten Zulauf hatten.

Johanna Schneider, die kürzlich für den Vorstand der Deutschen Jazzunion wiedergewählt wurde und dort u.a. in der AG Gender & Diversity aktiv ist, machte am Abend die anwesenden Musiker*innen auf die Jazzstudie 2022 aufmerksam, die als Anschlussstudie zur Umfrage von 2016 deutlich erweitert ist. Die zweite Auflage will erstmals die Vielfalt der Jazzszene und mögliche Diskriminierungen in den Blick nehmen, und auch Aufschluss über das Wohlbefinden und die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Situation der Musiker*innen bekommen. Noch kann frau daran teilnehmen.

Außerdem ist sie Co-Initiatorin des Jazzkollektivs PENG und des gleichnamigen Festivals, das auch in diesem Jahr im Herbst stattfinden wird. Sie beschrieb, dass das PENG Festival zuerst gegründet wurde, um Frauen* zu fördern und herausragende, regionale und internationale Künstler*innen auf die Bühne zu bringen. Das Organisations-Kollektiv habe bewusst einen neutralen Namen gewählt und nicht auf das Frau*-Sein hingewiesen. So schaffte es das Festival, Erwartungshaltungen und Stereotype zu verändern – eben durch eine starke und vielfältige weibliche Präsenz auf der Bühne, ohne im Vorhinein zu polarisieren. Inzwischen verfolgt das Festival einen intersektionalen Ansatz, es will „einen Rahmen schaffen, der frei ist von jeglichen Strukturen der Unterdrückung, Macht und Dominanz“ (Homepage). Auch die bewusste Wahl des Ortes soll mehr Teilhabe ermöglichen: das Festival findet im eher unterprivilegierten Norden von Essen statt.

In der Diskussion mit dem Publikum ging es schließlich auch darum, wie wichtig die Musikpädagogik in Schule und Hochschule (und die Ausstattung mit Personal) ist und was geändert werden müsste, damit eine musikalische Karriere in der Klassik & im Jazz nicht wenigen Wohlhabenden vorbehalten bleibt. Der Zugang zur Musik sei auf der einen Seite nicht einfacher geworden, auf der anderen Seite habe es aber auch nicht mehr so einen großen Stellenwert, z.B. in die Oper oder ins Jazzkonzert zu gehen wie früher – das Publikum sei durchweg relativ alt. Auch bräuchte es viele gute und engagierte Menschen in den Schulen, die in den Kindern und Jugendlichen die Liebe zur Musik wecken und pflegen. Dazu müssten aber auch die Rahmenbedingungen, vor allem die Bezahlung und Wertschätzung in der Gesellschaft, verbessert werden.

Ein weiteres Thema war die Vereinbarkeit von Karriere & Familie. Schneider erzählte, dass viele Kolleginnen ihren eigentlichen Anspruch, weiterzuarbeiten und ihre Musikkarriere mit Familie weiterzuverfolgen, gar nicht hätten durchhalten können. Konzertgagen sind häufig so niedrig, dass sie für das Babysitting draufgehen. Der Mann verdient immer noch meist mehr, sodass die Frauen dann doch wieder zuhause mit der Kinderbetreuung allein gelassen würden. Herzig führte ihre Beobachtung an, dass die meisten ihrer Kolleginnen mit Jazzmusikern verheiratet seien.

 

Vol. 2: Jazz Montez Talks & Konzert 06.05.2022 Kunstverein Familie Montez

Zwei Tage später drehte sich bei der Veranstaltung unseres Koop-Partners Jazz Montez alles um die Wechselwirkung zwischen Jazz und Demokratie. Was kann unsere Demokratie vom Jazz lernen, was macht eine gute Jazzsession aus und was ist das Faszinierende am Jazz, fragte das erste Panel mit der Sängerin Fiona Grond, dem Schlagzeuger und Dozent an der HfMdK Oli Rubow und dem DJ und Journalisten Michael Rütten. Ein häufig genannter Satz fing mit „im Idealfall…“ an: im Idealfall hörten alle Musiker*innen aufeinander, ließen sich gegenseitig Raum, erzeugten glücklich machende Musik. In der Realität gäbe es aber auch die Alpha-Menschen, die sich mit ihren Soli produzierten und für die Begegnung mit den Anderen gar nicht offen seien, was die Session schrecklich langweilig mache.

Das zweite Panel mit Johanna Schneider, dem Orchestermanager der hr-Bigband Olaf Stötzler und mir (Mane Stelzer (MELODIVA, Singer-/Songwriterin)) trug den Titel „Jazz in Deutschland – Eine elitäre Veranstaltung?“ und befasste sich vor allem mit den Zugangshürden und Ausschlüssen in der Jazzszene. Stötzler versicherte, dass ihnen bewusst sei, dass sie als rein männliche Bigband ein bisschen aus der Zeit gefallen seien. Es scheitere nicht am guten Willen, sondern daran, dass sich zu wenige Frauen bewürben und gegen die Konkurrenz durchsetzen könnten. Auf die letzte Ausschreibung hin hätten sich von insgesamt 58 Bewerber*innen nur zwei Musikerinnen beworben, deren Audiofiles dann in einer Art „Blind Audition“ angehört wurden. 12 Bewerber kamen in die Vorauswahl und wurden für eine Audition eingeladen; und obwohl darunter nicht die zwei Bewerberinnen waren, wurden diese dann trotzdem „live“ angehört. Eingestellt wurde dann aber ein Mann.

An gutem Willen fehlt es also nicht – wohl eher ein genaueres Hinschauen. Es könnte auch an der Art der Ausschreibung, der Außenwirkung und Ausrichtung der Bigband oder praktischen Gründen wie Tour- und Probezeiten usw. liegen, dass sich so wenige Musikerinnen* bewerben. Wir nehmen uns vor, dem auf den Grund zu gehen und bei den Jazzmusikerinnen* in unserem Netzwerk genauer nachzufragen. Schreibt uns gern eine Mail mit eurer Meinung und euren Erfahrungen!

Um zu zeigen, wie Kommunikation im Jazz zwischen Musiker*innen funktionieren kann, waren für die anschließende Session sechs großartige Instrumentalist*innen eingeladen, die noch nie in dieser Formation zusammengespielt hatten und den Auftrag bekamen, gemeinsam zu den Themen des Abends zu improvisieren. Neben Johanna Klein (Saxofon, Effekte), Franziska Aller (Bass) und Johanna Schneider (Vocals) waren das Darius Blair (Saxofon), Lukas Wilmsmeyer (Gitarre), Biboul Dariouche (Percussion) und Oli Rubow (Schlagzeug). Sie ließen sich von Begriffen inspirieren, die die sechs Panelgäste im Vorfeld nennen durften und die jeweils einer anderen Farbe zugeordnet wurden. Das wechselnde Scheinwerferlicht läutete so immer einen neuen Part ein und setzte Begriffe wie Ehrlichkeit, Neugier, Respekt, Aktivität, Vertrauen und Erdung musikalisch in Szene. Grandios!