Vielleicht hat sich manche Musikliebhaberin schon gefragt, warum die Musik der als Sklaven ins Land verschleppten schwarzafrikanischen Menschen in Nord- und Südamerika so völlig unterschiedlich ist. Nun, die Sklavenhalter im Norden verboten sehr schnell Trommeln und andere „laute Instrumente“, weil sie befürchteten, sie könnten zur Kommunikation von Plantage zu Plantage benutzt werden und zu Aufständen aufrufen. In Lateinamerika sah man das entspannter, und so konnten afrikanische Rhythmen, Trommeln und Blasinstrumente die dortige Musik stark prägen. Im Blues, entstanden in den Südstaaten der USA, findet sich außer einigen wenigen Vokabeln so gut wie kein afrikanisches Erbe.
Diese und Hunderte weiterer musikalischer wie auch sozio-politischer Informationen finden wir in dem fast 300-seitigen Buch der promovierten Historikerin, Politikwissenschaftlerin und Bluesmusikerin Haide Manns. Zunächst spürt sie den Anfängen des Blues Mitte des 19. Jhdts. nach. „Field Hollers“ der Plantagenarbeiter*innen oder „Worksongs“ der aneinander geketteten Gefangenen wurden vermischt mit Kirchenliedern der europäischen Einwanderer: Vor Einführung der Rassentrennung besuchten Sklavenhalter und Sklaven noch die gleichen Gottesdienste (Foto rechts: Alan Lomax, South Carolina 1934) .
Die daraus entstandene Musik, die keinesfalls immer auf dem heute meist üblichen „Bluesschema“ aufgebaut war, wurde von Anfang an von Frauen und Männern, oft mit selbst gebauten Gitarren, zuhause oder bei lokalen Zusammenkünften gespielt. Die Texte waren im Gegensatz zum Gospel rein weltlich, handelten von der Lebensrealität der Vortragenden, die ja die gleiche wie die der Zuhörenden war; sie wurden deshalb während des Vortrags durch Zwischenrufe lautstark kommentiert. Texte galten als Allgemeingut und wurden jahrzehntelang verwendet und variiert.
Nach Abschaffung der Sklaverei, v.a. in der „Great Migration“ab 1916, machten sich viele junge Männer in den industrialisierten Norden auf, um den armseligen Lebensumständen im Süden zu entgehen – die Frauen blieben größtenteils dort; die männlichen und weiblichen Bluestexte begannen sich zu unterscheiden. Auffallend war aber bei den weiblichen Texten bereits, dass die Umstände – auseinander gerissene Beziehungen, Armut – nie nur klagend hingenommen wurden. Auswege wurden gesucht, sei es, sich einen neuen „good man“ zu suchen, ebenfalls wegzugehen, oder auch, sich mithilfe von Sex, Drogen und Alkohol eine gute Zeit zu machen. Im frühen 20. Jhdt. gab es schon massenweise Frauen, die im Süden in Lokalen, Zeltshows und bei Feiern, später auch im Norden in Clubs, wie dem Lincoln Theater in Harlem, ihr Geld verdienten, manche von ihnen wurden richtig wohlhabend. 1920 erkannte die weiße Schallplattenindustrie, dass mit Blues Geld zu verdienen ist. Es folgte der „Blues Craze“ – interessant, dass jahrelang nur schwarze Frauen und keine ihrer männlichen Kollegen auf Platte erschienen.
Nun folgen die Lebens- und Schaffensgeschichten unzähliger Bluesmusikerinnen. Bessie Smith (Foto links: Carl van Vechten), Ma Rainey oder Memphis Minnie dürften ein Begriff sein; die meisten jedoch sind hierzulande wohl nur ausgewiesenen Kenner(inne)n bekannt. Aber auch ihre Geschichten sind äußerst spannend zu lesen. Am besten, man googelt die Betreffende und genießt gleich mal eine Hörprobe. Die Lebensläufe sind immer eingebaut in die US-amerikanische Geschichte – bis heute -, hatten doch Prohibition (viele private kleine Auftrittsmöglichkeiten!) oder die Große Depression (viele Musiker*innen gehen zurück in den Süden) enormen Einfluss auf die afroamerikanische Musikszene. Wie der Blues erst in der schwarzen Mittelschicht, in den 1950er Jahren dann in der weißen US-Hörerschaft und ab ca. 1960 in Europa populär wurde, was vielen bejahrten Blues Ladys eine späte Karriere ermöglichte, all das erfahren wir ausführlich.
Mir gefällt am besten das Kapitel über die Songtexte. Mit wieviel Lebensklugheit, Empathie, aber auch Kampfgeist und Humor da gearbeitet wird, ist stellenweise geradezu umwerfend. Im Gegensatz zur „Sweet Music“ der Weißen wird die romantische Liebe so gut wie nie thematisiert – es geht unverblümt und prosaisch zur Sache, egal, ob thematisiert wird, dass der Mann endlich mal die Nächte zu Hause verbringen, Geld verdienen oder sich sexuell etwas mehr anstrengen soll. Sonst fliegt er nämlich ganz schnell raus und wird durch einen der zahlreich vorhandenen Verehrer ersetzt… Wie singt Ida Cox 1924? „Wild women don’t have the Blues“.
Ein tolles Buch – nicht nur für Bluesfans!
Das Buch ist 2022 in der Reihe „Song Bücherei“ im Heupferd Musik Verlag GmbH Dreieich erschienen: 312 Seiten • Paperback • ISBN 978-3-923445-51-6 • 24,80 €
Titelbild: Memphis Minnie/Autorin unbekannt,Wikipedia