St. Vincent
“Strange Mercy“
Liest man Besprechungen über St. Vincents neues, drittes Album „Strange Mercy“ bekommt man rasch den Eindruck, dass vor allem männliche Rezensenten verunsichert reagieren: verunsichert aufgrund des Künstlernamens (eine karibische Insel? Nein, Singer-/Songwriterin Annie Clark aus Texas) und der Musik. Manch einer verliert vollends das Bewusstsein, nennt St. Vincent „die homecoming queen aus der Vorhölle“ oder entdeckt in ihren Songs „auftürmende flimmernde Strudel“. Dieses beinah schon poetische schiefe Bild weckt Assoziationen einer musizierenden Medusa oder Loreley, die wehrlose Seeleute mit ihrem Sirenengesang in den Strudel, äh, ins Verderben schickt. Annie Clark, die überdies mit ihren dunklen Locken und Kulleraugen als Pop-Lolita missinterpretiert werden könnte, ist aber vor allem eine wagemutige Künstlerin, die vieles ausprobiert. Mit weißen Kieselsteinen resp. harmonischen Melodien legt St. Vincent falsche Fährten, die nicht zum Lebkuchenhaus, sondern mitten in den dunklen Wald führen. Ein Soulstück wird von stotternden Rockgitarren unterbrochen. Elektronische Klänge gaukeln Dancefloor-Tauglichkeit vor und werden von Stolperbeats aus dem Takt gebracht. Übermütiges Rummelplatz-Getröte dominiert einen Song namens „Cruel“. Das Tempo von „Surgeon“ bringt erst zum Tanzen und dann zur Hyperventilation. Die Ballade „Champagne“ ist von trauerschwarzer Schwere und wärmt wie beseelter Gospel. St. Vincent, die Mitglied von The Polyphonic Spree und der Sufjan Stevens Band ist, singt in heiklen Tonlagen, die an Björk und Kate Bush erinnern, schwieriges Terrain also. Und erst die Texte: der Song „Cheerleader“ sollte zunächst „Dirt Eater“ heißen, wovon St. Vincents Producer John Congleton dringend abriet. Dank der Zeile „I don´t wanna be a cheerleader no more“ morpht das eher allgemeine kein-Dreckfresser-mehr-sein-wollen zur feministischen Hymne. Die Dinge sind bei St. Vincent selten was sie scheinen: Das Dunkle blendet, Helligkeit verdüstert den Horizont. „Strange Mercy“ verwirrt und erfordert ganze Aufmerksamkeit. Für Männer vielleicht wirklich ein bisschen viel verlangt…
CD, 2011, 11 Tracks, Label: 4ad/Beggars Group
Christina Mohr12.09.2011