Melissa Etheridge

“Lucky“

So schön ist das Leben, wenn frau frisch verliebt ist: Melissa Etheridge ist mit ihrer Angetrauten Tammy Lynn Michaels überschäumend glücklich, und sie teilt das gerne und ausdauernd ihrem Publikum mit, so wie sie auch schon vor zwei Jahren auf „Skin“ selbstquälerisch ihre Seelenqualen ob der gescheiterten Lebenspartnerschaft mit Julie Cypher offenlegte. Auf „Lucky“ dagegen feiert Melissa Etheridge die Verliebtheit, die sich anfühlt, als ob die Erde stillsteht. Sie besingt den ersehnten Anruf; die aufregende Frau vom anderen Ufer; die heilende Wirkung eines Kusses nach einem langen Arbeitstag – und die vielen Frösche, die geküsst werden müssen, bevor die große Liebe einschlägt. Ihre starke Rockstimme ist allerdings manchmal etwas fehl am Platze – wer möchte lauthals mit einem kraftvollen „Küss mich!!“ angegröhlt werden? Auch wenn sie noch so leise beginnen, gehen die Songs unweigerlich in die altgewohnten bodenständigen Etheridge-Rockmuster über. Die luftig-leichten Liebesliedtexte wollen nicht so recht zu der rohen Kraft der E-Gitarren passen. Diese Diskrepanz hat Melissa Etheridge anscheinend auch bemerkt und deshalb vorgesorgt: „Den Song „Lucky“ habe ich als Titelsong ausgewählt, weil ich sicherstellen wollte, dass jeder merkt: dies ist ein fröhliches Album!“ Das nachdenkliche „Will you still love me“ über das Andauern die Liebe, das in sich ruhende „When you find the one“ und das leise, von einer verheimlichten Liebe handelnde „Meet me in the Dark“ bilden die balladigen Ausnahmen vom Schema Rock. Gänzlich ungewohnt und nicht wirklich passend säuseln in „Mercy“ Engelsstimmchen im Background. Dazu kommt mit „Tuesday Morning“ eine pathetisch-patriotische Würdigung eines schwulen Passagiers, der zusammen mit anderen eine der Maschinen vom 11.September 2001 zum Absturz in einem Feld brachte. Da Etheridge darin um gesellschaftliche Akzeptanz beinahe bettelt, hätte sie vielleicht lieber den wütend schroffen Anklagetext beibehalten sollen, den sie, wie sie erzählt, zuerst schrieb und dann wieder verwarf. Jetzt aber schnell in die E-Gitarrensaiten gehauen: schließlich sind wir die Größten („I am a Giant“), erst recht zu zweit! Das allerdings – oops – ist eine vorschnelle Fehlinterpretation der Rezensentin, die aus dem gesammelten Zweierkisten-Jubelkontext des Albums entsprang: es handle sich nämlich, sagt Melissa Etheridge über den fetzigen Rock’n’Roll-Knaller, um einen Song über den Fall der Berliner Mauer, und gleichzeitig „einen sehr allgemein gehaltenen Song, über Unterdrückung und Unterdrückte“. Ach so. Die erste Singleauskopplung ist mit „Breathe“ ein Song, den die Musikerin ausnahmsweise nicht selbst geschrieben hat, er dreht sich um die Sehnsucht nach der Liebsten daheim, viele Meilen entfernt. Überraschend ist das ungewohnt funkige Tempo von „Come on out tonight“, in dem sich jemand, vielleicht ihre Schauspielerin-Freundin, heute abend im Scheinwerferlicht outen wird. Melissa Etheridge, die das Überleben im Musikgeschäft von der Pike auf lernte und erst mit Mitte zwanzig einen Plattenvertrag bekam, schreibt grundsolide rockende und eingängige Songs. Aber das glattgebügelte, perfekt produzierte und mit Blick auf den Markt erzeugte Endprodukt ist sicher teilweise den Vorstellungen der Plattenfirma Island zuzuschreiben, die Melissa Etheridges Songmaterial mehrmals abgelehnt und postwendend zurückgeschickt hatte. Man glaubt dort vielleicht, dass die 25 Millionen KäuferInnen von Etheridge-Platten mit Innovativem, Experimentellem, mit über Springsteen hinausgehenden Einflüssen und mit musikalischer Weiterentwicklung ihrer Gitarrenrock-Heldin überfordert sind… Trotz solcherlei Hin und Her ist „Lucky“ insgesamt eine weitere perfekt nette Scheibe mit bewährten Zutaten aus Etheridges Rockküche geworden, die obendrein bei leiseren emotionalen Stücken wie „Meet me in the Dark“ eine beeindruckende Stimmintensität offenbart. PS: Und ob da nun „Lucky“ oder „Sad“ draufsteht, ist ja eigentlich auch egal… Aber dennoch: fast möchte man Melissa Etheridge eine heftige Ehekrise oder gleich eine schmerzvolle Trennung wünschen, damit sie wieder trauert, leidet und hofft, und die entsprechenden sehnsüchtigen Songs passend zu ihrer starken bluesig-intensiven Rockstimme schreiben kann. – So etwas darf man niemandem wünschen? Na gut, dann bleibt es eben bei „Lucky“.

CD, 2004, 13 Tracks, Label: Island (Universal)

Irene Hummel

20.04.2004