Tori Freestone Trio
“El Mar de Nubes“
Dass das CD-Cover an das berühmte Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich erinnert, ist kein Zufall. Auf dem 1818 entstandenen Bild steht eine einsame Figur auf einem Hügel, den Rücken dem Betrachter zugewandt, und blickt hinaus auf ein Meer aus dichtem Nebel. Ähnlich steht Tori Freestone mit ihrem Saxofon alleine auf einem Hügel und blickt hinunter in ein Wolkenmeer. Der große Künstler der Romantik ist Tori Freestones Inspiration für dieses Album. Auf der Innenseite des Covers hat die Saxofonistin ein Zitat Caspar Friedrichs ausgewählt: „I must stay alone and know that I am alone to contemplate and feel nature full – Ich muss allein bleiben und wissen, dass ich allein bin, um die Natur vollständig zu schauen und zu fühlen.“ So wie die Romantiker sich von der Natur inspirieren ließen, hat Tori Freestone am 1. Januar 2018, dem Tag des Supermondes, auf dem Vulkan El Teide auf Teneriffa einen Text niedergeschrieben, den sie für „El Mar de Nubes“ vertont hat.
Das Zeitalter der Romantik war geprägt von Gefühl, Leidenschaft und individuellem Erleben. Vor allem die gequälte Seele stand im Vordergrund. Wer wohlklingende Melodien mag, wer gerne einen Jazz der Harmonien und klaren Rhythmen goutiert, wird das auf diesem Album nicht finden. Obwohl das Album mit einem ruhigen Saxofonsolo beginnt, folgt die Musik dem Wolkenphänomen: So wie sich Wolken ständig verändern, sich ständig auflösen und neue Wolkenformen bilden, so ändert sich die Musik – ein Kaleidoskop von (un)melodischen Linien. Tori Freestone liefert keine durchgängig harmonischen Melodien, an denen man sich orientieren oder bei denen man mitsummen kann. Während die Romantiker Brüche und Spaltungen orteten, mit dem Wunsch, die Risse zu heilen, scheint Tori Freestone mit ihrem Trio absichtlich Risse zu produzieren. Dissonanzen und musikalische Brüche werden virtuos präsentiert, Rhythmen und Tempi überlappen sich. Selbst dort, wo die/der Hörer*in eine bekannte Melodie heraushört – wie etwa auf den 2 Tracks „Shenandoah“ und „Shenandoah Reprise“, wirkt die Erkennung nur flüchtig, denn nach ein paar Takten löst sich das Saxofon von der bekannten Melodie und folgt eigene Wege.
Die Romantiker prägte eine Sehnsucht nach Heilung der Welt, nach der Zusammenführung von Gegensätzen zu einem harmonischen Ganzen. Ein harmonisches Ganzes im klassisch-musikalischen Sinne ist dem Trio auf dieser CD eher nicht gelungen. Das ist aber auch gar nicht ihr Ziel gewesen, sondern „Wir spielen so offen und immer bereit für das Unterwartete“. Als Hintergrundmusik ist dieses Album nicht geeignet. Ein konzentriertes Zuhören ist erforderlich, um dem Dialog zwischen den Instrumenten zu folgen. Wer sich jedoch auf das Unerwartete einlassen mag und auf intellektuellen Freejazz steht, ist hier richtig.
CD, 2019, 9 Tracks, Label: Whirlwind Recordings
Tina Adomako07.10.2019