Ani DiFranco

“Carnegie Hall 4.6.02“

Live-Alben sind eine heikle Angelegenheit. Das liegt zum einen daran, dass alles was schon live schief lief, jetzt für immer und ewig und seinen Charme verlierend falsch läuft. Zum anderen kommt es aber auch daher, dass die Käuferin eines Live-Albums häufig beim Konzert nicht anwesend war. Man hört die Aufzeichnung allein daheim. Man hat nicht die Vorbereitung auf einen ganz besonderen Abend durchlaufen und steht oder sitzt nun aufgeregt zwischen lauter gleich gesinnten, vorfreudigen Menschen und wird getragen von dieser besonderen Atmosphäre, die einen für die Zwischenrufe und die Akustik entschädigt. Kurz, ein Live-Album muss schon einen ganz besonderen Moment akustisch einfangen und konservieren, um im heimeligen Wohnzimmer zu überraschen, zu ergreifen und zu berühren. Es gibt diese Live-Alben. Die Aufnahme von Laura Nyro im Filmore East vom 30. Mai 1971 ist eine solche und –- ja –auch die von Ani DiFranco in der Carnegie Hall. Nicht überraschend ist, dass beide Alben in einigen wichtigen Dingen übereinstimmen. Beide Künstlerinnen erscheinen verletzlich, aber auch entschlossen, sich dem Publikum zu öffnen, ihre Gefühle zu teilen. Beide sind Singer-Songwriterinnen. Beide treten solo auf und begleiten sich selbst auf ihrem Instrument. Beide Shows haben einige Symbolkraft. Die von Laura, weil das Filmore nur wenig später geschlossen wurde, die von Ani weil sie im noch vom 11. September 2001 verwundeten New York stattfindet. Ani DiFranco durchläuft in ihrem Programm ihre gesamte künstlerische Entwicklung. Mit „Gratitude“ geht sie zurück bis ins Jahr 1991. Mit „Educated Guess“, „In The Way“ und „Second Intermission“ teilt sie mit ihrem Publikum damals ganz neue Songs. Schon das Eröffnungsstück „God’s Country“ kommt rauh, klar und laut intoniert zur Sache und macht deutlich, Ani DiFranco ist nicht gekommen, um ihr Publikum in Watte zu packen und sanft einzulullen. Sie ist auf der Bühne, um amerikanische Geschichten zu erzählen, die zwar für Stories von Carver, aber nicht für die Vorabendsoaps taugen. Dabei geht es manchmal um ganz Privates („Angry Anymore“, „Educated Guess“), häufig aber um Wut, um Unverständnis und Unzufriedenheit mit dem großen Ganzen („Subdivision“, „Serpentine“ und „Self Evident“). Und diese große Geste nimmt man Ani DiFranco ab. Denn man hört zu jedem Augenblick, dass sie allein da draußen auf dieser Bühne ist; dass sie angespannt ist; dass alles auf etwas zuläuft. Mit „Serpentine“ und „Self Evident“ hält sie sich und ihrem Publikum schließlich den Spiegel vor. Einige sagen, dass hätte das Publikum von jemandem wie Ani DiFranco erwartet. Sie selbst gibt zu, dass sie ihre Zweifel hatte, ob die Carnegie Hall sieben Monate nach 9/11 der rechte Ort und die rechte Zeit war für diese Bilanz. Ihr Publikum indes hat Ani DiFranco Vertrauen geschenkt, ihr Raum gelassen und sich den Spiegel vorhalten lassen. Und auf diesem Live-Album sind dieser besondere Moment und die Schlagkraft der Musik dieser außergewöhnlichen Songwriterin festgehalten.

CD, 2006, 15 Tracks, www.righteousbabe.com, Label: righteous babe records

Nadine Hartung

10.08.2006