Gris-de-Lin

“Sprung“

Gris-de-Lin ist eine Figur aus einem türkischen Märchen und zwar ein weiser, sprechender Vogel – die Musikerin, die diesen Namen als Pseudonym gewählt hat (und ihren echten Namen nicht preisgibt), kommt allerdings aus Bridport, Dorset. Wer jetzt das Gefühl hat, von diesem Ort im Zusammenhang mit Musik schon öfter gehört zu haben, liegt absolut richtig, denn PJ Harvey ist dort geboren und lebt überwiegend in Dorset. Gris-de-Lin als Schülerin PJ Harveys zu beschreiben, greift viel zu kurz, aber Harveys Einfluss ist auf Gris-de-Lins Debütalbum „Sprung“ unleugbar: In einigen Songs ist Harveys Rauheit und Leidenschaft spürbar, ohne dass Gris-de-Lin das große Vorbild plump kopieren würde. Vielmehr scheint es, dass an diesem südwestlichen Küstenort Englands ein gewisser Sound in der Luft liegt – oder besser: mit den Wellen kommt. Gris-de-Lins Songs sind wie die Gezeiten: mal rollen pure Naturgewalten mit ihnen heran, dann ist wieder Gelegenheit, tief einzuatmen und auf die Details zu hören: Die Multiinstrumentalistin lässt Saxofon und Piano miteinander ringen, definiert mit ihrer Gitarre den Folk neu, experimentiert mit elektronischen Beats und legt überhaupt großen Wert auf die Percussion: Rob Ellis (Nick Cave / PJ Harvey / Anna Calvi) spielt Schlagzeug in mehreren Stücken, was zu einem so kraftvollen wie vertrackten Klang führt. Gris-de-Lins Songtexte sind narrativ, voller eindringlicher Bilder und manchmal ein bisschen unheimlich: Der Opener „Your Ghost“ beispielsweise lässt offen, ob „nur“ eine beendete Beziehung oder noch Dramatischeres geschehen ist. In anderen Songs geht es um tote Ehefrauen, einsame New Yorker Hotelzimmer oder Muhammad Ali – und frau lässt sich wohlig fallen in diese sperrigen Kleinode des weisen Songbirds Gris-de-Lin.

CD, 2018, 11 Tracks, Label: *BB Island

Christina Mohr

01.05.2018