ANNE CLARK: „Just after sunset..”

Mit neuem Album auf Clubtour in Deutschland

Das war für die beiden Autoren Jörg Pelleiter und Stefan Gnad Anlass genug, ein Interview mit Anne Clark zu machen.

Auszüge aus dem Interview:

Anne Clark: „Just After Sunset“ war das schwerste Projekt, das ich jemals realisiert habe. Es war schier unmöglich, auch nur irgendeine Form von Unterstützung dafür zu bekommen. Sowohl die Plattenindustrie als auch mein Verleger wollten nichts davon wissen, weil es nun mal nicht gerade ein kommerzielles Projekt ist. Wie wir alle wissen, gibt es nur eine Sache, die heutzutage von Bedeutung ist: Kommerziell verwertbare Musik. Seit vier Jahren bin ich deshalb damit beschäftigt, meine Rilke-Lieder bekanntzumachen und auch live zu präsentieren, wozu ich bis zu dieser Tour nicht in der Lage gewesen bin. Jetzt habe ich die Rechte an dem Material zurück bekommen, das Album neu veröffentlicht und zwei Live-Videos als Bonus mit auf die CD gepackt. Leider ist die Qualität der Videos nicht die allerbeste, aber zumindest kann man sehen, wie die Stücke damals, vor vier Jahren, geklungen haben. Der eigentliche Grund der Wiederveröffentlichung war einfach der, dass ich die Lieder einer größeren Anzahl von Fans zugänglich machen wollte, nachdem die ursprüngliche Veröffentlichung nur in sehr kleinem Rahmen stattgefunden hat.“

Aber Deine Plattenfirma sollte doch längst mitgekriegt haben, dass die Musik von Anne Clark nie massenkompatibel und leicht konsumierbar war!

Anne Clark: „Endlich jemand, der meine Sicht teilt! Neben der Elektronik hatte ich schon immer auch diese akustischen und experimentellen Elemente in meiner Musik. Aber die Plattenindustrie hat ihre Scheuklappen angelegt und urteilt dementsprechend: „Nein! Das ist nicht poppig, das ist nicht kommerziell, davon wollen wir nichts wissen!“

Wie waren die Reaktionen auf „Anne Clark acoustic“?

Anne Clark: „Großartig! Die Reaktionen waren überwältigend. Ich muss sagen, dass es ein sehr, sehr schwieriges Projekt ist, weil es so anfällig für Fehler ist. Wenn man elektronische Musik macht, dann hat man Geräusche, viel Energie und eine fette Soundwand zwischen sich und dem Publikum. Wenn da mal was schief geht, ist das nicht so dramatisch. Die Musik läuft trotzdem weiter … Ein reines Akustikprojekt jedoch ist nackt und anfällig. Deswegen ist das richtig harte Arbeit für die Musiker und auch für das Publikum. Andererseits: Etwas Arbeit hat noch niemandem geschadet!“ (lacht)

Bei Deinem akustischen Rilke-Reigen ist das Publikum noch mehr als sonst gefordert …

Anne Clark: „Ich war sehr erstaunt. Du stehst auf der Bühne, und im Saal herrscht absolute Stille, die du nicht so recht zuordnen kannst. Dann spielst du diese sehr ruhigen und fragilen Stücke, ohne dass auch nur ein einziges Geräusch von den Zuschauern kommt. Da fragt man sich schon: „Hmm, ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?“. Aber zwischen den Stücken und am Ende zeigt das Publikum dann deutlich, dass ihm die Sachen gefallen haben. Folglich hoffe ich einfach mal, dass es den ganzen Aufwand wert war!“

Live in Nürnberg ist uns aufgefallen, dass das Publikum Deinen Liedern sehr aufmerksam gefolgt ist …

Anne Clark: „Das ist es, was mich so fasziniert. Ich singe oder spreche ja nicht mal auf deutsch. Ich singe in Englisch und wundere mich: Wie kann es sein, dass diese Deutschen und Belgier, Holländer und Franzosen meine Musik hören wollen? Ja, ich glaube sogar, dass es eine ganze Menge Leute gibt, die eben nicht nur Popmusik hören wollen. Derzeit kommen Sachen auf, die wirklich große Aufmerksamkeit vom Zuhörer verlangen. Nehmt zum Beispiel Nick Cave und sein letztes Album. Oder dieser Künstler auf dem World Serpent Label, Anthony And The Johnsons. Das sind Sachen, bei denen man wirklich hinhören muss! Die Menschen sind nun mal nicht alle dumm und einfältig. Sie wollen sich ab und zu mit anderen Sachen befassen, eben nicht immer nur mit Pop.“

Die Elektronik ist bei Anne Clark mit den Jahren völlig verloren gegangen …

Anne Clark: „Nein, nicht wirklich. Es interessiert mich nur im Moment nicht. Aber vielleicht wird sich das in der Zukunft wieder ändern.“

Hast Du überhaupt noch eine Beziehung zu Deinen alten Hits wie „Sleeper In Metropolis“, „The Sitting Room“ und „Our Darkness“?

Anne Clark: „Ja. Ab und an ist es wirklich nicht das Innovativste, was man sich vorstellen kann, aber ich kann dieses Material nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Die Songs bedeuten den Leuten etwas. Für den Umstand, dass diese Lieder dem Publikum derartig wichtig ist, muss ich im Prinzip ja dankbar sein. Und ich weiß das auch zu schätzen!“

Auf „Just After Sunset“ vertonst Du 17 Gedichte von Rainer Maria Rilke. Warum ausgerechnet Rilke?

Anne Clark: „Wer weiß. Ich scheine eine seltsame Verbindung zu Deutschland zu haben. Ich fühle mich den Menschen und der Kultur hier sehr verbunden. Ursprünglich wollten Martyn und ich ein Projekt über die Gedichte des irischen Dichters W. B. Yates machen. Aber irgendwie wurde ich von seinen Gedichten nicht in der selben Art und Weise inspiriert. Ich lese Rilke und bin absolut hin und weg. In dieser verrückten, vom Materialismus geprägten, oberflächlichen Welt sind seine Worte und Gedanken noch immer präsent. Und manchmal brauchen die Leute Sachen wie diese weit mehr als all das oberflächliche Zeug unserer Zeit.“

Rilke hatte eine sehr enge Beziehung zur Natur …

Anne Clark: „Ich verehre die Welt, die uns umgibt! Wir haben nur schlicht und ergreifend das Verständnis für sie verloren. Meine größte Inspirationsquelle ist ein Spaziergang durch den Wald oder an einem Flussufer entlang. So was ist für mich sehr, sehr wichtig. Ich hatte zwischenzeitlich sogar für vier Jahre mit der Musik aufgehört, um wieder Ökologie und Umweltschutz zu studieren.“

Wie geht man daran, Gedichte zu vertonen, Sprache in Musik zu packen?

Anne Clark: „Ich denke, dass das die große Parallele zur Natur ist. Wenn ich mit Martyn arbeite, ist das wie ein organischer Prozess: Man versucht, mit der Musik das nachzubilden, was die Texte in Worten ausdrücken und einen ungeschliffenen, natürlichen Sound zu kreieren.“

Zieht Ihr Euch in einen Übungsraum zurück und jammt munter drauf los oder wie sieht das in der Praxis aus?

Anne Clark: „Martyn schickt mir einige Ideen oder ich ihm. Und dann beginnt sich das Ganze wie von selbst weiter zu entwickeln. Das ist das, was ich vorhin in Bezug auf das Yates-Projekt meinte: Es wollte einfach nicht in Gang kommen. Ganz im Gegensatz zum Rilke Material, bei dem es fast von alleine voran ging.“

Kommuniziert Ihr via e-mail oder schnürt Ihr ganz herkömmlich Päckchen?

Anne Clark: „Wir nutzen beides. Ich besuchte Martyn oder er kam zu mir. In der Zwischenzeit tauschten wir uns per e-mail aus.“

Martyn lebt in Amerika?

Anne Clark: „Nein, er lebt in England – in den Midlands nahe Birmingham. Ich lebe unweit von London.“

1997 erschien mit „Wordprocessing (The Remix Project)“ ein viel beachtetes Anne Clark-Remix-Album. Leute wie Sven Väth interpretierten darauf Lieder von Dir neu und krempelten sie zum Teil völlig um.

Anne Clark: „Das war okay. Wie gesagt, diese alten Stücke sind für eine Menge Leute extrem wichtig, und selbst DJs sagen ab und an, wie sehr diese Lieder sie beeinflusst haben. Insofern war ich sehr glücklich darüber, dass sie diese Sachen remixt haben. Auch wenn ich gehofft hatte, dass das Label dann im Gegenzug sagen würde „Okay, Anne – Du hast dieses Projekt mitgemacht, dafür helfen wir Dir bei Deiner aktuellen CD und arbeiten mit Dir als Künstlerin zusammen.“ Aber das haben sie nicht getan. Sie sehen in mir nur ein weiteres Produkt.“

Da klingt sehr viel Wut durch …

Anne Clark: „Mittlerweile nicht mehr. Wisst Ihr, es war schon so viele Male der selbe Mist. Schon in den 80er Jahren wollten sie zehn Lieder wie „Our Darkness“ auf einem Album haben. Somit kam das alles nicht als plötzlicher Schock, aber es war dennoch eine große Enttäuschung. Eine Firma von der Größe von Sony, die nahezu alles in ihrem Besitz hat, hätte mit Sicherheit irgendwo in ihrem Netzwerk einen Platz gefunden, um meine Arbeit zu unterstützen. Aber sie haben sich entschieden, es nicht zu tun.“

Sieht man als Künstlerin da einen Ausweg?

Anne Clark: „Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Eine ist Aufhören, was ich ja auch von Zeit zu Zeit mache. Ich schmeiße alles hin … und bin in der glücklichen Lage, nach einer gebührenden Auszeit großartige Menschen zu treffen, wie die, mit denen ich momentan zusammenarbeite. Zum Beispiel Jeff Aug, der bei uns Gitarre spielt – ein fantastischer Mensch mit so viel kreativer Energie! Mit solchen Künstlern ist das Feuer plötzlich wieder da …“

Wie denks
t Du darüber, als Künstlerin Deine Musik selbst über das Internet zu vertreiben?

Anne Clark: „Die Möglichkeit ist mit Sicherheit vorhanden. Aber ich brauche dennoch diesen unmittelbaren Kontakt mit den Leuten. Ich muss live spielen.“

Anne Clark spannt einen sehr weiten Bogen: Sie läuft im Radio, wird auf Rave-Parties gespielt, und auch auf Gothic-Parties tanzen die Menschen dazu.

Anne Clark (unterbricht): „Wisst ihr: Wenn ich ein Studioalbum mache, bin ich durchaus bereit, zwei, drei oder gar vier Stücke mit draufzupacken, die kommerziell erfolgversprechend sind. Damit habe ich kein Problem. Aber im Gegenzug will ich auch die Möglichkeit haben, ein halbes Dutzend Stücke zu machen, die nicht so kommerziell orientiert sind!“

Uns hat mal wer die Geschichte erzählt, dass Du auf einem Open Air mit der Videokamera auf die Bühne gekommen bist und die Fans mit den Worten „Winkt mal – Meine Plattenfirma sagt, Euch gibt es gar nicht!“ gefilmt hast. Stimmt das?

Anne Clark: „Ja. Das ist immer das Hauptargument der Plattenindustrie: „Niemand wird das kaufen, niemand interessiert sich dafür!“ Und dann denke ich mir, „Okay, wenn das so ist, ziehe ich mich eben in mein Haus zurück und bleibe dort“ Aber dann geht doch wieder das Telefon oder es kommt ein e-mail, und es heißt „Hey Anne, da sind Leute, die uns fragen, ob Du live hier und dort auftrittst“. Es gibt also durchaus ein Publikum für meine Musik. Es sind vielleicht keine Millionenmassen, aber es ist ein Publikum.“

Hast Du das Videoband mal Deiner Plattenfirma gezeigt?

Anne Clark: „Nein. Ich rede nicht mehr mit meiner alten Plattenfirma.“

Wie kommuniziert Anne Clark – nur via e-mal … oder bleibt da noch Zeit, Briefe zu schreiben, so richtig mit Tinte und Papier?

Anne Clark: „Nein, ich liebe Briefe! Das Internet ist praktisch für schnelle und wichtige Kommunikation, aber das Schreiben mit Stift und Papier ist dennoch etwas ganz besonderes. Das kann wie eine Art Tagebuch sein …“

Was hört Anne Clark zu Hause?

Anne Clark: „Alle möglichen Arten von Musik. Ich mag klassische Musik. Was ich auf die Tour mitgebracht habe, ist das Chumbawamba-Album. Auch das Readymade-Album mag ich sehr gerne. Ich mag auch Musik, die Ihr wohl als Ethno beschreiben würdet. Das ist zum großen Teil ziemlich abgefahrenes Zeug.“


Du bist Anfang der 80er im Zuge der englischen Punk-Explosion gestartet. Ist davon heute noch irgend etwas übrig?

Anne Clark: „Es gibt natürlich noch immer Leute, die diesen Prinzipien verpflichtet sind. Das war eine sehr heftige Bewegung damals. Wie ein heller Lichtblitz tauchte sie auf und beeinflusste viele Bereiche. Und ja, ich denke durchaus, dass es noch Leute gibt, die aus diesem Ansatz heraus künstlerisch tätig sind“


Und bei Anne Clark selbst?

Anne Clark: „Das hoffe ich doch! Ich finde es zum Beispiel noch immer extrem wichtig, ehrlich zu mir selbst zu sein.“


Du hast in Deinen jungen Jahren auch für Fanzines geschrieben …

Anne Clark: „Ja. Damals gab es einige Magazine wie etwa das Zig Zag. Ich habe Reviews und ähnliches geschrieben. Fanzines sind sehr wichtig, selbst, wenn die Auflage nur 100 Stück beträgt.“

Du hast sehr viel erreicht in Deiner langen Karriere. Gibt es noch Wünsche und Träume?

Anne Clark: „Nun, ich hätte nichts dagegen, mal mit bestimmten Leuten zusammenarbeiten, etwa Brian Eno oder Daniel Lanois. Das wäre eine gute Sache. Oder auch David Bowie!“

Anne Clark ist wahrscheinlich die einzige Sängerin, die seit über zwanzig Jahren Platten veröffentlicht und in ihrer langen Karriere noch keinen einzigen Ton gesungen hat …

Anne Clark: „Stimmt. Weil ich nicht sehr gut singen kann. Ich habe das oft genug versucht. Manchmal singe ich einfach für mich selbst. Aber ich fühle mich nicht wirklich wohl dabei.“

Interview: Jörg Pelleter und Stefan Gnad / Nürnberg

Discografie:

The Sitting Room (1982)

Changing Places (1983)

Joined up writing (1984)

Pressure Points (1985)

Hopeless Cases (1987)

R.S.V.P. (1988)

Unstill Life (1991)

The Law is An Anagram of Wealth (1993)

Psychometry (1994)

To love and be loved (1995)

Wordprocessing – The Remix Project (1997)

Just after sunset – The Poetry of R. M. Rilke (1998)

Re-release Just after sunset – The Poetry of R. M. Rilke (2002)

Wir bedanken uns bei der Redaktion von RADIO Z Nürnberg für die kostenlose Zweitverwendung des Artikels.

Das gesamte Interview wurde am 29.1.2003 in der Sendung AKTE XX von RADIO Z Nürnberg gesendet, zwischen 20.00 und 21.00 h – livestream:

www.radio-z.net

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31.12.2002